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Wenn das Zuhause in der Ferne liegt – Meine Familiengeschichte in den vergangenen 40 Jahren

2018-02-02 09:16:00 Source: Author:
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Von Lu Zhu*

 

 

 

Das Schicksal habe ihr beschieden, sich täglich um gute Wetterverhältnisse in gleich vier chinesischen Städten zu kümmern, scherzt meine Mutter oft. Gemeint sind die Städte Chengdu, Beijing, Guangzhou und Urümqi, denn unsere Familienangehörigen leben an vier verschiedenen Orten Chinas, in alle Himmelsrichtungen verstreut also

 

 

 

Erinnerung an vergangene Tage: Urümqi, die Hauptstadt des Autonomen Gebiets Xinjiang der Uiguren, im Jahr 1985.

 

 

 

30 Jahre später: Urümqi im Jahr 2015.

 

 

Dabei sind Chinesen traditionell sehr heimatverbundene Menschen. Dass die ganze Familie unter einem Dach lebt, ist eigentlich der Inbegriff von Glück. Doch Mutter Moderne strickt heute für die Menschen ein anderes Lebenskostüm. Seit der Einführung der Reform- und Öffnungspolitik Ende der 1970er Jahre gibt es heute immer mehr Familien wie unsere, deren Angehörige es in die unterschiedlichsten Landesteile gezogen hat.

 

 

 

Familienfoto aus dem Jahr 1977, aufgenommen in Urümqi: Unsere Gastautorin Lu Zhu ist als Erste von links im Bild zu sehen.

 

Den ersten Schritt weg von Zuhause tat damals mein Vater. Meine Eltern stammen nämlich beide ursprünglich aus Chengdu, der Hauptstadt Sichuans. Diese Provinz liegt im Südwesten des Landes. 1963 machte mein Vater hier seinen Universitätsabschluss. Er hatte Elektronik studiert, eines der modernsten Fächer damals, das gute Zukunftsperspektiven versprach. Nach seinem Abschluss wurde ihm, wie es damals üblich war, ein Arbeitsplatz vom Staat zugewiesen. Und so begann sein Berufsleben in einer Fabrik für Elektronenröhren in Beijing.

 

 

 

Lu Zhu (hintere Reihe 1. v. l.) und ihre Familie in Urümqi im Jahr 1988. Damals war es üblich, Familienfotos beim Fotografen in einer Wohnzimmerkulisse zu schießen.

 

Viele Jahre später wurden Chinas staatliche Betriebe einer groß angelegten Reform unterzogen, einige Fabriken wurden stillgelegt. Auch der Verfall des Betriebs meines Vaters war nicht mehr aufzuhalten. Dort, wo einst Rauch aus den hohen Fabrikschloten quoll, sollten nur wenige Jahre später avantgardistische Künstler ihre Studios einrichten. Heute strömen Kulturinteressierte aus aller Welt in diese Kunstzone mit dem rauen Charme rostiger Fabrikanlagen. Unter ihrer alten Bezeichnung 798 findet die Zone sich in jedem Chinareiseführer.

 

 

 

Familienschnappschuss aus dem Jahr 2015: Das Bild entstand in einem Hotel mit Thermalbad in Guangzhou. Unsere Autorin ist die Erste von rechts.

 

 

1969 erblickte ich das Licht der Welt. Ich war der zweite Spross meiner Eltern und hatte noch eine ältere Schwester. Meine Mutter war zu diesem Zeitpunkt noch als Lehrerin in Sichuan tätig. Meinem Vater bot man eine Stelle in einer Elektronikfabrik in Urümqi an. Die Stelle bot die Möglichkeit, die gesamte Familie nachzuholen. Und so verschlug es unsere junge Familie in die Hauptstadt des Autonomen Gebiets Xinjiang der Uiguren ganz im Westen des Landes.

 

Urümqi ist bekannt für seine langen, sibirischen Winter. Als Südchinesen, die ein mildes Klima gewohnt waren, brauchten meine Eltern eine Weile, bis sie sich akklimatisiert hatten. Meine Mutter lernte schnell, Jacken und Hosen mit wärmendem Baumwollfutter zu nähen und strickte für uns Pullover aus Schafswolle. Mein Vater fand unterdessen heraus, wie man den kleinen Ofen der Wohnung richtig in Gang brachte, um die Stube nachts gut zu beheizen. Dafür war damals Kohle nötig und im Umland Urümqis gab es zahlreiche Kohlenbergwerke. Meine Eltern und ihre Kollegen halfen einander und mieteten gemeinsam einen Lastwagen, um das Heizmaterial zu den Häusern zu transportieren. Anschließend teilten sie die Heizkohle unter sich auf.

 

Dann kam Ende der 1970er Jahre die Zeit der Reform und Öffnung. Die Wirtschaft wuchs und hohe Wohnblocks und Hochhäuser schossen wie Pilze aus dem Boden. Anfang der 1980er Jahre zogen auch wir in eines dieser neuen Wohnhäuser mit Gaskochherd ein. Die Plagerei, den Kohleofen in Gang zu setzen, gehörte damit der Vergangenheit an.

 

Doch es war nicht nur das eisige Klima, das meinen Eltern zu schaffen machte. Auch die Essgewohnheiten der Xinjianger unterschieden sich stark von denen meiner Eltern. In Sichuan gehörte zu jeder Mahlzeit eine Schüssel Reis als Grundnahrungsmittel einfach dazu. Reis war in Xinjiang allerdings kein gängiges Nahrungsmittel und wurde streng rationiert. Jeder Erwerbstätige in Urümqi erhielt damals pro Monat nur ein Kilogramm Reis zugeteilt. Reis war in Xinjiang damit ein teuer Luxus, Weizen dagegen war billig und Mais noch billiger.

 

Meine Eltern begannen deshalb, mit Kollegen Weizen und Mais gegen Reis zu tauschen: zwei Kilogramm Mais oder ein Kilogramm Weizen gegen ein halbes Kilogramm Reis. Bei Heimatbesuchen in Sichuan scheuten meine Eltern in den 1970er Jahren keine Mühen, Reis nach Urümqi zu schleppen – tausenden Kilometern zum Trotz. Ich kann mich noch gut erinnern, dass meine ältere Schwester im Jahr 1976 einmal gemeinsam mit meiner Mutter in die Heimat reiste. Auf dem Rückweg war sogar ihre Schultasche randvoll mit Reis gefüllt.

 

2005 wurde der Film „Pfau“ des chinesischen Regisseurs Gu Changwei in Berlin mit einem silbernen Bären ausgezeichnet. Der Film zeigt das Leben der einfachen Leute in China in den 1970er Jahren. Bei vielen älteren Zuschauern im Reich der Mitte rief er die Erinnerungen an den damaligen Alltag wach. Szenen wie das Formen von Kohlenbällchen mit bloßen Händen und das Einsalzen von Gemüse spiegeln authentische Ausschnitte der Wirklichkeit von damals.

 

In den 1980er Jahren befand sich Chinas Gesellschaft im Umbruch und das Land florierte. Meine Eltern verschrieben sich ganz ihrer Karriere. Es war zu dieser Zeit, dass in China die staatliche Politik der fachlichen Rangstufen eingeführt wurde. Um ein ranghoher Ingenieur zu werden, musste man Englisch beherrschen. Zwar hatte mein Vater während seines Studiums einige Englischkurse belegt, doch seine Sprachkenntnisse waren nach mehr als zehn Jahren ohne Praxis jäh eingerostet. Um die fremdsprachliche Eignungsprüfung zu bestehen, nahm er das Englischlernen also wieder auf. Morgens führte er mich und meine Schwester in den Park. Dort paukten wir dann jeder für sich die englische Sprache.

 

1985 bestand meine Schwester die Hochschulaufnahmeprüfung und wurde damit zum Stolz der Familie. Denn unter allen Kindern der Kollegen meiner Eltern war sie das einzige Kind, dem der Sprung an eine Universität gelungen war. Damals wurden landesweit nur 670.000 Studienplätze vergeben. Nach ihrem Hochschulstudium blieb meine Schwester in Urümqi und trat eine Stelle als Lehrerin an einer Fachoberschule an. Bis heute lebt sie in der Hauptstadt Xinjiangs.

 

1988 bestand auch ich die Hochschulaufnahmeprüfung und erhielt eine Zusage von der renommierten Renmin-Universität in Beijing. Urümqi und Beijing trennen mehr als 3770 Kilometer. Für den Studienantritt musste ich also 72 Stunden im Zug verbringen. Nach drei strapaziösen Tagen und Nächten im Zugabteil waren meine Beine geschwollen, als ich endlich in Beijing eintraf.

 

Doch die strapaziöse Anreise sollte sich auszahlen. Das Studium in Beijing brachte mir eine reiche geistige Ernte. Ich kam zu einer Zeit, in der gerade verschiedene geistige Strömungen nach China drangen und heftige gedankliche Auseinandersetzungen auf dem Campus stattfanden. Zahlreiche philosophische und literarische Werke des Westens wurden damals gerade ins Chinesische übersetzt.

 

Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie ich erstmals mit dem Werk „Hundert Jahre Einsamkeit“ des kolumbianischen Schriftstellers Gabriel García Márquez in Berührung kam. Ich war damals gerade im zweiten Studienjahr und es war an einem Frühlingsnachmittag, als mir das Buch in der Universitätsbibliothek in die Hände fiel. Ich war völlig überwältigt von Márquez’ Zeilen und bis ins Mark erschüttert von dieser Geschichte.

 

Nachdem ich den Bachelorabschluss in der Tasche hatte, nahm ich ein Aufbaustudium in klassischer chinesischer Philologie auf. Nach dem Master an der Renmin-Universität folgte noch eine Promotion an der Peking-Universität. Ich wurde eine promovierte Hochschullehrerin und ging später sogar für einige Jahre ins Ausland, nach Belgien und Irland, um dort Chinesisch zu unterrichten.

 

Ich habe noch einen Bruder, der drei Jahre jünger ist als ich. 1990 erhielt er die Zusage der Universität Xiamen. Xiamen ist eine malerische Küstenstadt im Südosten Chinas. Er schrieb sich im Studiengang Betriebswirtschaftslehre ein. Damals war ich im dritten Studienjahr an der Renmin-Universität und unsere ältere Schwester begann gerade zu arbeiten. Gemeinsam halfen wir unserer Mutter, die Reisetasche meines jüngeren Bruders zu packen. Als meine Mutter auf dem Weg einige Kollegen traf, fragten sie: „Hat etwa auch Ihr Jüngster die Hochschulaufnahmeprüfung bestanden?“ „Ja, auch er hat es geschafft!“, erwiderte meine Mutter voller Stolz.

 

Damals erhielt, wie bereits eingangs erwähnt, nur ein Bruchteil der Jugendlichen eines Jahrgangs einen der begehrten Studienplätze an einer der Hochschulen des Landes. Um das Jahr 1990 lag die Zulassungsquote, also der Anteil der neu eingeschriebenen Studienanfänger von allen Jugendlichen eines Jahrgangs, nur zwischen drei und vier Prozent. Deshalb schätzten wir uns alle sehr glücklich, die Hürde zum Hochschulstudium genommen zu haben.

 

Als auch mein jüngerer Bruder seinen Uniabschluss in der Tasche hatte, trat China in eine neue Phase der Vertiefung der Reform und Öffnung ein. Mitte der 1990er Jahre begann auch die Wirtschaft im Süden einen Aufschwung zu nehmen. Vor diesem Hintergrund entschied sich mein Bruder, seine berufliche Karriere in der südchinesischen Metropole Guangzhou zu starten. Dies sollte sich als kluge Entscheidung erweisen. Heute ist er Finanzchef der Tochterfirma eines staatlichen Großunternehmens, glücklicher Ehemann und stolzer Vater von Zwillingen.

 

Wenn ich auf die Veränderung meiner Familie in den vergangenen 40 Jahren zurückblicke, erkenne ich, dass die Entwicklung der Verkehrsinfrastruktur für unser Familienleben eine wichtige Rolle gespielt hat und es bis heute tut. Als meine Eltern noch berufstätig waren, konnten sie nur alle paar Jahre mit dem Zug in die Heimat Sichuan zurückkehren, um ihre Eltern zu besuchen. Damals gab es nur sehr wenige bezahlte Urlaubstage, zumal das Einkommen der Menschen damals begrenzt war. So vergingen zehn lange Jahre, bis mein Vater nach seinem Umzug nach Urümqi erstmals meine Großmutter wiedersah.

 

In meiner Erinnerung war die Heimreise stets ein strapaziöses Unterfangen. Die Zugfahrt von Urümqi nach Chengdu nahm damals geschlagene 60 Stunden in Anspruch. In den Waggons waren selbst die Gänge gerammelt voll. Wer einen Sitzplatz hatte, konnte sich glücklich schätzen und nachts einige Stunden die Augen zumachen. Die anderen Passagiere legten sich einfach auf den Boden. Besonders der freie Platz unter den Sitzbänken war sehr begehrt. Man breitete einfach ein Zeitungspapier aus und bettete sich darauf.

 

Mitte der 1990er Jahre traten meine Eltern in den Ruhestand ein. Ganz im Sinne des chinesischen Sinnspruchs: „Gefallene Blätter betten sich an den Wurzeln ihres Baumes“ kehrten sie nach dem Ende ihres Arbeitslebens in ihre Geburtsstadt Chengdu zurück. In China ist diese bekannt für ihr angenehmes Klima und ihre vielfältigen kulinarischen Erzeugnisse. Dort lässt sich ein angenehmes Leben führen und ein beschaulicher Lebensabend verbringen.

 

Dies ist also die Geschichte, wie es dazu kam, dass die Mitglieder meiner Familie über verschiedenste Landesteile verstreut wurden. Wir trafen uns lange Zeit nur selten, einmal natürlich wegen der großen Entfernung, zum anderen waren auch die Urlaubstage begrenzt. Nicht zuletzt hing es mit den hohen Reisekosten zusammen.

 

Als ich im Jahr 2003 nach meiner Promotion ins Berufsleben startete, kostete ein einfacher Flug von Beijing nach Chengdu zwei Drittel meines Monatsgehaltes. Ein Ticket von Urümqi nach Chengdu kostete damals mehr als das Monatsgehalt meiner Schwester. Damals war es zudem schwierig, Zugfahrkarten zu ergattern, insbesondere rund um das chinesische Frühlingsfest. Wenn zu den Feiertagen alle Landsleute in ihre Heimat aufbrechen, setzt in China jedes Jahr eine regelrechte Völkerwanderung ein.

 

Mein Bruder ist beruflich sehr eingespannt und bekommt in der Regel nur zum Frühlingsfest einige Tage frei. So reiste er früher nur über die Feiertage nach Chengdu, um unsere Eltern zu besuchen. Meine Schwester hatte als Lehrerin dagegen Sommerferien und konnte unseren Eltern zusätzlich in den Sommermonaten einen Besuch abstatten, zumal Fahrkarten zu dieser Zeit leichter zu bekommen waren.

 

Heute zeichnet sich in China ein völlig anderes Bild. Die Lebensbedingungen haben sich merklich verbessert. Ausgaben für Zug- und Flugtickets machen heute nur noch einen kleinen Anteil an unseren Gehältern aus. Das hat dazu geführt, dass die Familie heute öfter zusammenfindet. Meine Eltern sind heute beide über 80 Jahre und erfreuen sich zum Glück guter Gesundheit. Wann immer wir die Zeit finden, besuchen meine Geschwister und ich unsere Eltern in der alten Heimat.

 

Die Generation meiner Eltern wurde weitestgehend vom Staat versorgt – Wohnungen, Arbeitsplätze und Lebensmittel wurden ihnen vom Staat zugeteilt. Erwerbstätige mussten sich damals auch keine Sorgen machen, als unqualifiziert eingestuft oder sogar entlassen zu werden. Der Druck, unter dem sie standen, entsprang hauptsächlich dem Mangel an materiellen Dingen. Die Schwierigkeiten in dieser Hinsicht mussten meine Eltern damals Hand in Hand meistern.

 

In unserer Generation ist der berufliche Druck enorm gestiegen. Als meine Schwester ihr Hochschulstudium absolvierte, galt noch die staatliche Politik, Hochschulabsolventen Arbeitsplätze zuzuweisen. Da sie in Xinjiang die Hochschule besucht hatte und auch ihre Haushaltsregistrierung dort lag, wurde ihr eine Arbeitsstelle in Xinjiang zugewiesen. Mein jüngerer Bruder und ich hatten in Sachen Berufswahl bereits viel größere Freiheiten. Wir konnten unsere Arbeitsstelle selbst wählen.

 

Da ich eine Kulturwissenschaft im weiteren Sinne studiert hatte und eine Lehrtätigkeit ausübte, war natürlich Chinas Hauptstadt für mich die bevorzugte Wahl. Mein Bruder entschied sich als studierter Kaufmann dagegen für die damals wirtschaftlich am besten entwickelte Stadt Guangzhou. Er wechselte zudem mehrmals seine Arbeitsstelle: von einem Staatsunternehmen zu einem Privatunternehmen, dann zu einem von Hongkonger Investoren finanzierten Unternehmen und letztlich zu einem unter der Zentralregierung stehenden Großunternehmen. Für uns beide gilt bis heute das Prinzip: Wer im Beruf nicht die geforderte Leistung bringen kann, muss gehen. Deshalb stehen wir unter ständigem Druck, gute Leistungen zu erbringen.

 

Allerdings haben sich die materiellen Bedingungen für unsere Generation im Vergleich zur Generation meiner Eltern wesentlich verbessert. Vor 40 Jahren rollten auf Beijings Straßen nur wenige Autos. Nur führende Kader hatten einen Dienstwagen. Selbst vor 20 Jahren gab es kaum Privatautos in Chinas Hauptstadt. Eine Eigentumswohnung und ein eigenes Auto zu kaufen, das war für mich damals noch unvorstellbar.

 

Die Generation der in den 1970er Jahren Geborenen wuchs im Zuge der rasanten Wirtschaftsentwicklung Chinas auf, eine Zeit, in der auch die Privatvermögen der Menschen rasch wuchsen. Als ich in den 1990er Jahren in meinen Beruf einstieg, wohnte ich anfangs noch in einem Wohnheim meiner Arbeitseinheit. Diese teilte mir später eine Werkwohnung zu. Nach der Jahrhundertwende erwarb ich dann eine Eigentumswohnung und später ein eigenes Auto. Heute besitzen viele Familien in China eine oder zwei Immobilien sowie einen eigenen Wagen. Mein Bruder nennt heute gar drei Wohnungen sein Eigen.

 

Bai Juyi, ein gefeierter Dichter der Tang-Dynastie (618 – 907), brachte einst folgenden berühmten Vers zu Papier: „Beim Betrachten des hellen Mondes standen uns die Tränen in den Augen; meine Geschwister und mich, getrennt an fünf Orten, ergriff in der nächtlichen Einsamkeit die gleiche Sehnsucht nach Heimaterde.“ Die Sehnsucht nach der Heimat und den Familienangehörigen ist in der klassischen chinesischen Dichtung ein wiederkehrendes Motiv. Als Lehrerin für Altphilologie bin ich bei der Behandlung solcher Gedichte noch immer sehr ergriffen vom tiefen Sinngehalt solcher Zeilen und ihrer meisterhaft beschriebenen Gefühlswelt.  

 

Heute ist Chinas Gesellschaft durch starke Mobilität gekennzeichnet, sei es aufgrund eines Hochschulstudiums oder des Antritts einer neuen Arbeitsstelle. Die Angehörigen meiner eigenen Familie verspüren in der „nächtlichen Einsamkeit“ an vier Orten „die gleiche Sehnsucht nach Heimaterde“. Allerdings ermöglichen uns heute moderne Hochgeschwindigkeitsbahnen und günstige Flugverbindungen, häufig zusammenzutreffen. In den Augen stehen also nicht mehr Tränen. Die Tochter meiner Schwester allerdings absolvierte im vorigen Jahr ihr Bachelorstudium und bereitet sich derzeit auf ein Masterstudium im Ausland vor. Für diese Generation wird der Weg vom Zuhause also noch weiter sein. 

 

* Lu Zhu unterrichtet an der Beijing Jiaotong University.

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