Wer im Süden der Nanjinger Altstadt gemächlich über das typisch blaugraue Straßenpflaster der Duicao-Gasse schlendert, wird vielleicht in das Atelier von Zhao Shuxian stolpern, des Meisters der Samtblumen. Seine Werkstatt liegt unaufgeregt unweit des murmelnden Qinhuai-Flusses, wo traditionelle Wohnhöfe mit dunklen Ziegeldächern und grauen Backsteinwänden den Weg säumen.
Schon beim Betreten der Kunstwerkstatt fällt der Blick auf eine schmucke Wand, auf der Samtblumen in allerlei strahlenden Farben erblühen. „Ronghua“ (绒花) heißt dieses traditionelle Kunsthandwerk, das Teil des immateriellen Kulturerbes der Volksrepublik ist. Seit fünfzig Jahren verleiht Zhao Shuxian dieser alten Fingerfertigkeit durch seine innovativen Methoden frischen Wind und zeigt auf diese Weise vielen Menschen das innovative Potenzial seines traditionellen Metiers. So wie die „Ronghua“ metaphorisch für „Blüte und Pracht“ stehen, hat auch ihre Herstellungskunst über tausend Jahre hinweg ihre Blüte fortgesetzt. Die handgearbeiteten Stücke strahlen bis heute in beeindruckender Schönheit.
Bringt Samt zum Blühen: Ronghua-Meister Zhao Shuxian bei der Arbeit in seinem Atelier (Foto: Interviewpartner)
Vom angestaubten Kunsthandwerk zum hippen Accessoire
Zhao Shuxian ist gebürtiger Nanjinger. In der Zeit der Planwirtschaft hat man ihn der Nanjinger Fabrik für handgemachte Blumen zugeteilt. Er nahm dort eine Lehre im Bereich Samtblumenfertigung auf. Zufall oder Fügung? Wie dem auch sei – der junge Zhao sollte in der Ronghua-Kunst eine lebenslange Leidenschaft finden.
Zhaos Berufseinstieg fiel just in die Blütezeit des chinesischen Kunsthandwerks. Samtblumenprodukte fanden damals in großen Mengen ihren Weg auf ausländische Märkte, waren zeitweise sogar eine wichtige Devisenquelle für Nanjing. Seine Lehrmeister wiesen den jungen Zhao in die grundlegenden Techniken der Samtstreifenfertigung ein. Und der junge Mann sollte sich fleißiger als Schüler erweisen, fertigte täglich sieben- bis achthundert solcher Streifen, jeder makellos und von hoher Qualität. Rasch erkannten seine Lehrer den Fleiß und das Talent des Neuankömmlings und versetzten ihn von der Produktionslinie in die Designabteilung, als Assistent des bekannten Kunsthandwerkers Zhou Jiafeng. Unter den Fittichen seines Lehrmeisters übte Zhao Shuxian gewissenhaft jede Phase des Herstellungsprozesses ein: vom ersten Kämmen der Fasern, über das Biegen der Streifen und das Formen der Spitzen bis hin zum abschließenden Bügeln und Zusammenfügen der Blüten. Nach und nach beherrschte Zhao so den gesamten Herstellungsprozess.
Doch in den 1980er Jahren wandelte sich der Markt allmählich. Die Bestellungen gingen zurück, die Fabrik geriet in Schwierigkeiten. Viele seiner Kollegen orientierten sich aus finanziellen Gründen beruflich neu. Auch Zhao Shuxian wechselte zunächst in einen Verlag als Grafikeditor. Doch anders als viele seiner Mitstreiter blieb Zhao den Samtblumen in seiner Freizeit verbunden.
2005 stieß China dann eine landesweite Bestandsaufnahme für immaterielles Kulturerbe an, woraufhin die Medien in Nanjing über Zeitungsannoncen nach Handwerken der alten Schule Ausschau zu halten begannen. Auf Empfehlung der Bürger rückte dabei auch die alte Kunst der Samtblumenfertigung wieder ins Augenmerk der Öffentlichkeit. 2006 wurden die Nanjinger Samtblumen als immaterielles Kulturerbe der Provinz Jiangsu anerkannt. Zhao Shuxian ernannte man zum Bewahrer dieses alten Kulturerbes auf Provinzebene.
Zhao, mittlerweile über fünfzig, nahm also sein altes Metier wieder auf. Seine Liebe zu den Samtblumen war ungebrochen und es rührte ihn, dass auch viele andere Menschen das alte Handwerk nicht vergessen hatten. 2008 eröffnete der Altmeister ein Atelier im Nanjinger Museum für Volkstraditionen und begann auf seine alten Tage wieder, Samtblumen erblühen zu lassen und zu verkaufen. Er erinnert sich: „Mein erster Käufer war ein Kanadier chinesischer Abstammung, dessen Mutter, eine Kanton-Opernsängerin, einst bei ihren Auftritten Samtblumenschmuck getragen hatte. Später vermisste sie die filigranen Accessoires, konnte sie aber nirgends mehr auftreiben. Der Mann aus Kanada war ganz aus dem Häuschen, dass immer noch jemand Samtblumen herstellte. Meine erste Blume verkaufte ich also an ihn – für 100 Yuan. Erst fürchtete ich, dass ich den Preis zu hoch angesetzt hätte, aber der Mann zückte sofort das Portemonnaie und war glücklich.“
Im Jahr 2018 sollte Zhao für seine jahrzehntelange Beharrlichkeit richtig belohnt werden. Damals nämlich ging die Serie „Story of Yanxi Palace“ viral – und mit ihr die exquisiten Kostüme der Darsteller. Insbesondere der Kopfschmuck der Kaiserin und der Konkubinen geriet zum echten Hingucker. Und die eleganten Samtblumenschmuckstücke stammten allesamt von Zhao Shuxian und seinen Lehrlingen. Dank des plötzlichen Popularitätsschubs häuften sich bald die Bestellungen. Doch Meister Zhao ließ sich nicht hetzen und blieb seinem handwerklichen Ethos treu. Qualität opfern für schnellere Lieferzeiten? Das kam für den Blumenmeister nicht in Frage. „Bei der Arbeit mit Samtblumen ist es wie bei der anständigen Lebensführung – man kann nicht einfach schlampig vorgehen, nur um schneller fertig zu werden“, sagt Zhao mit ernster Miene. „Mein Credo lautet: Keine Abstriche bei Material und Handwerk!“ Das sei die Grundlinie, die er seit Jahrzehnten konsequent verfolge.
Gefragter Artikel: Eine von Zhao Shuxian entworfene und handgefertigte Samtblumenhaarnadel (Foto: Interviewpartner)
Kulturerbe alltagstauglich machen
Die Geschichte des einzigartigen Nanjinger Samtblumenhandwerks reicht bis in die Tang-Dynastie (618-907) zurück. Damals trugen die Frauen am Kaiserhof die Blüten als Kopfschmuck. In der Ming- und Qing-Dynastie (1368-1911) erlangten die Ronghua-Blüten dann allmählich auch in der breiten Bevölkerung Popularität, wo man sie zu besonderen Anlässen wie Hochzeiten sowie dem Frühlings-, Drachenboot- oder Mittherbstfest trug. Selbst in „Der Traum der roten Kammer“ kommen die „frischen, kunstvollen Blumen aus Seidengaze aus Palastherstellung“ zur Sprache, womit der chinesische Klassiker eindeutig Bezug auf die Nanjinger Samtblumen nimmt.
Wie aber diesen traditionellen Schmuck in das moderne Leben integrieren und somit dem alten Kunsthandwerk neues Leben einhauchen? Das war eine Frage, die Zhao Shuxian ständig umtrieb. 2008 sei in China dann plötzlich Hanfu-Tracht in Mode gekommen, die traditionelle Kleidung der Han-Ethnie. Zhao habe den Trend sofort erkannt und begonnen, passenden Samtblumenschmuck für Hanfu-Gewänder herzustellen, erzählt er uns. Das bescherte ihm jede Menge Bestellungen und große Aufmerksamkeit. Das erfolgreiche Experiment bestärkte ihn darin, seine Samtblumen auch mit anderen Bereichen zu verbinden. Auf seine alten Tage entwarf Zhao Samtblumen als Geschenke für Großveranstaltungen, kreierte Dekorationen für Teehäuser und Restaurants. Seine Samtblumen trieben durch Kooperationen mit Modehäusern und Designern sogar auf der internationalen Bühne Blüten. Der berühmte chinesische Modedesigner Laurence Xu verarbeitete Samtblumenpfauen aus der Manufaktur von Zhao Shuxian in seinen Kreationen, während Acqua di Parma, eine Marke von Louis Vuitton, seine Parfümflakons mit Samtblumen-Designs verzierte. Selbst auf die großen Laufstege der Welt schafften es die Accessoires, genauer gesagt auf die Hüte der Frühjahrs- und Sommerkollektion 2024 von Dior Men.
Gefragt nach seinen Erfahrungen, wie sich Chinas immaterielles Kulturerbe wieder zum Leben erwecken lasse, betont Zhao die Unerlässlichkeit von Modernisierung und Innovationen. In Zhejiang habe er die Bambusflechttechnik gesehen, ebenfalls ein immaterielles Kulturerbe, das immer seltener im Alltag auftauche. „Das fand ich einfach unglaublich schade und habe mir daher Gedanken gemacht, wie man die alte Kunstfertigkeit wieder alltagstauglich machen kann. Da kam mir der Gedanke, dass viele Familien in China heute Katzen halten. Warum also nicht die alte Bambusflechterei nutzen, um Kratzbäume herzustellen? Sehen Sie, das Wichtigste ist doch, dass Kulturerbe wieder alltagstauglich wird. Und dafür darf man sich nicht scheuen, neue Anwendungsmöglichkeiten in der Gesellschaft zu finden.“
Von Zhao Shuxian hergestelltes Samtblumendekorationsstück „Langlebigkeit von Kiefer und Kranich“ (Foto: Interviewpartner)
Nachwuchsarbeit
Einst galt Zhao Shuxian als letzter seiner Zunft, heute tummeln sich in seinem neuen Atelier die Lehrlinge. Darunter seien sowohl Absolventen von Kunstschulen als auch Amateure, sagt Zhao. Was sie alle verbinde, sei der Wunsch, das filigrane Kunsthandwerk vor dem Verschwinden zu bewahren.
„Ich konzentriere mich jetzt hauptsächlich auf die Weitergabe meines Wissens. Und die Marktaussichten für unsere Kreationen sind derzeit sehr gut. Indem ich junge Menschen in die alte Kunst einführe, schaffe ich auch neue Jobs“, sagt Zhao. Und fleißige Hände könne er viele gebrauchen, da der Herstellungsprozess sehr arbeitsintensiv sei. „Wenn wir die Jugend mit ins Boot holen, wird es immer einen Markt für Samtblumen geben. Und da wo ein Markt ist, gibt es auch Beschäftigungsmöglichkeiten. Es ist also ein positiver Kreislauf.“
Um sein Erbe weiterzugeben, arbeitet der Blumenkünstler mit verschiedenen Fachhochschulen und der Nanjing Xingzhi Vocational Training School zusammen. Aus der Kooperation ist auch das „Jinling Xingzhi Team“ entstanden, eine Freiwilligengruppe von Studierenden, die sich mit kultureller Kreativität rund um das Thema immaterielles Kulturerbe befasst. Zhao und seine Mitstreiter haben das immaterielle Kulturerbe schon in verschiedene Hochschulen gebracht. In seinem Atelier bietet Zhao zudem Kulturerbe-Schnupperkurse für die ganz Jungen, nämlich Schülerinnen und Schüler. Das Angebot lockt insbesondere während der Ferien ein großes junges Publikum an.
Früh übt sich: Kinder erleben die Herstellung von Samtblumen in Zhao Shuxians Atelier (Foto: Wang Ruying)
Blumenmeister Zhao freut das Interesse sichtlich. Sein großer Wunsch für die Zukunft: „Ich hoffe, dass wieder mehr junge Menschen unser Handwerk als Beruf ergreifen, damit die Samtblumen zu einer Marke und einer Industrie reifen können. Nur so wird es gelingen, das immaterielle Kulturerbe wirklich durch Produktion zu erhalten und unsere traditionellen Fertigkeiten fortzuführen und weiterzuentwickeln.“