Kleines Gerät, großes Potential: Zhang Fei, der erste Parteisekretär für Armutsüberwindung im Dorf Ganjiagou, nimmt mit seinem Smartphone regelmäßig Kurzvideos auf, um seine neue Heimat landesweit bekannter zu machen.
Von Ma Li
Der 34-jährige Zhang Fei ist der erste Parteisekretär für Armutsüberwindung des Dorfes Ganjiagou. Der kleine Ort liegt im Kreis Xiaojin im autonomen Bezirk Aba in Sichuan. Vor gut eineinhalb Jahren, im Juli 2019, ging ein Kurzvideo von Zhangs Familie in Chinas sozialen Netzwerken viral. Der nur zehnsekündige Miniclip erreichte in kürzester Zeit mehr als zehn Millionen Klicks, was den zuvor völlig unbekannten Parteisekretär zu einem Online-Promi machte.
„Das Video zeigt mich und meine Familie beim Abendessen im Hof unseres Hauses. Im Vordergrund sieht man die dampfenden Gerichte, im Hintergrund die wolkenverhangenen Berghänge. Eine solche Idylle ist für viele Menschen da draußen scheinbar ein Augenschmaus“, sagt Zhang und lacht. Die Popularität des Zehn-Sekunden-Clips führte Zhang die unbegrenzten Möglichkeiten des Internets vor Augen und weckte in ihm die Hoffnung, online neue Chancen für die schnelle Entwicklung seines Dorfes zu finden.
Seinen ersten Miniclip stellte der chinesische Kader im November 2016 online. Seit der Veröffentlichung der ersten Clips sind Kurzvideos und Live-Streaming für die Dorfbewohner in Ganjiagou zu einer neuen Möglichkeit geworden, lokale Produkte anzupreisen und so ihr Einkommen zu steigern. „Ende 2018 haben die Dorfbewohner durch Kurzvideos und Live-Streaming auf beliebten Plattformen wie Douyin oder Kuaishou lokale Fleischwaren wie Würste und Speck im Wert von mehr als 300.000 Yuan verkauft. Im Sommer 2019 wurden Matsutake-Pilze im Wert von über 300.000 Yuan an Kunden im ganzen Land verkauft“, berichtet Zhang. Das Potential des Internets habe den armen Menschen in der Gebirgsregion neue Möglichkeit beschert. „Darüber hinaus hat das Web auch die Gedanken der Leute beflügelt. Diese Veränderungen sind von großer Bedeutung dafür, unsere Region erfolgreich aus der Armut zu führen“, so der Parteisekretär.
Dank der Unterstützung der Regierung und der Arbeitsgruppe für Armutsüberwindung gelang schon bis Ende 2018 insgesamt 26 örtlichen Haushalten mit 109 Personen der Sprung aus der Armut. „Mittlerweile liegt der Schwerpunkt meiner Arbeit darin, die erreichten Erfolge zu festigen und den weiteren Aufschwung des ländlichen Raums zu planen“, sagt der Parteisekretär.
Und diesbezüglich gebe es noch viel zu tun, betont Zhang. Derzeit arbeite er mit den Dorfbewohnern an einem Plan zur Förderung von Landwirtschaft und Tourismus. „Unser Ziel ist es, aufbauend auf den lokalen Gegebenheiten die örtliche Wirtschaft nachhaltig zu entwickeln“, sagt Zhang.
Erste Begegnung mit Ganjiagou
Zhang Fei stammt eigentlich aus der Provinz Anhui in Ostchina. Nach seiner Entlassung aus dem Armeedienst in Sichuan trat er 2010 dem Kultur- und Tourismusbüro des Kreises Xiaojin bei. Im Juli 2016 wurde er in das Dorf Ganjiagou beordert, um dort die Stelle des ersten Parteisekretärs für Armutsüberwindung anzutreten.
Ganjiagou liegt in einer entlegenen Gebirgsregion auf durchschnittlich 3300 Meter Höhe. Aufgrund der geografischen Besonderheiten und der ungünstigen Verkehrslage lebten die Menschen hier lange in extremer Armut. „Das Bildungsniveau liegt allgemein niedrig. Viele junge Menschen in meinem Alter haben nicht einmal die Grundschule abgeschlossen. Hinzu kommt, dass sie in einem geschlossenen und rückständigen Umfeld leben und aufgewachsen sind, so dass sie wenig aufgeschlossen für Neues sind“, gibt Zhang einen Einblick in die Mentalität der Menschen.
Die mangelnde Bildung machte es selbst vielen jungen Leuten schwer, beruflich in den Großstädten Fuß zu fassen. Den meisten blieb letztlich nichts anderes übrig, als sich mit Gelegenheitsjobs in der Kreisstadt Xiaojin durchzuschlagen. „Ihre Eltern und Großeltern blieben derweil im Dorf, verrichteten Feldarbeit oder züchteten Schweine und Kühe, um eine Existenzgrundlage zu schaffen“, erinnert sich der Parteisekretär an die erste Bestandsaufnahme.
Nach gründlichen Untersuchungen stellte Zhang Fei fest, dass der Verkauf von landwirtschaftlichen Produkten wie Hühnerfleisch oder hausgemachtem Pökelfleisch die einzige Einnahmequelle für die Dorfbewohner bildete. Doch aufgrund der schlechten Transport- und Logistikbedingungen konnten selbst diese wenigen Waren keine neuen Absatzmärkte jenseits der Berge finden. Zwei weitere Dinge hätten zudem das Geschäft der Dorfbewohner stark eingeschränkt: „Zum einen war es schwierig, die Qualität der Produkte festzustellen, und zum anderen gab es hohe Transportkosten“, so Zhang.
Ganjiagou liegt nur rund zehn Kilometer von der Kreisstadt Xiaojin entfernt. Verbunden werden beide Orte jedoch nur über eine einzige Bergstraße. Bereits 2016 begann man in der Kreisstadt, mit dem Onlinegeschäft zu experimentieren. Weil Xiaojin 500 Kilometer von der Transitstadt Chengdu entfernt liegt, erfolgte nur alle zwei Tage eine Expresszustellung. „2,5 Kilogramm hausgemachtes Pökelfleisch kosteten nur rund 300 Yuan, doch die Expressversandgebühren lagen früher bei rund 100 Yuan. Die hohen Logistikkosten machten die Produkte für viele Endverbraucher unattraktiv“, erinnert sich Zhang.
Klickträchtige Kulisse: Zhang Fei beim Essen mit seiner Familie. In der Ferne glänzt die Sonne auf den schneebedeckten Berghängen.
Die zündende Idee, wie sich die örtlichen Produkte zunächst bekannter machen ließen, kam Zhang schließlich im Gespräch mit seinem Bruder. Dieser schlug vor, die Möglichkeiten des Live-Streamings über soziale Medien auszutesten, um die lokalen Agrarprodukte öffentlichkeitswirksam zu vermarkten. So begann Zhang im November 2016, erste Beiträge online zu stellen.
„Über das neue Onlinemarketing wollen wir nicht nur unsere lokalen Produkte verkaufen, sondern auch den örtlichen Lebensstil und die malerische Landschaft präsentieren. All diese Aspekte sind wichtige Bestandteile meiner Arbeit zur Armutsüberwindung“, sagt Zhang. Dass seine zunächst unbeholfenen ersten Gehversuche in Sachen Onlinemarketing das Leben der Dorfbewohner letztlich von Grund auf verändern würden, hätte Zhang anfangs nicht gedacht.
Live-Streaming bringt die Wende
„Einige Internetnutzer ließen uns schon früh Geld- und Sachspenden zukommen, nachdem sie durch meine Kurzvideos einen Einblick in den Alltag der armen Menschen hier im Dorf bekommen hatten. Dies ließ in mir die Hoffnung keimen, dass Live-Streaming wirklich ein Kanal sein könnte, um hier eine Wende einzuläuten“, sagt Zhang. Nach Gesprächen mit den Verantwortlichen auf Kreis- und Dorfebene beschloss Zhang 2017, die Dorfbewohner zu überzeugen, Bio-Hühner zu züchten und das Fleisch anschließend online zu verkaufen.
Doch das Schicksal schien es nicht gut mit dem Projekt zu meinen. Nachdem gerade erst die erforderliche Infrastruktur erfolgreich fertiggestellt worden war, brach 2017 im ganzen Land plötzlich eine Geflügelpest aus. Zhang erinnert sich zurück: „Obwohl unser Geflügel unter strenge Quarantäne gestellt worden war, blieben wir damals auf mehr als 2000 Hühnern sitzen. Bei den Dorfbewohnern kamen daraufhin schnell Zweifel an dem neuen Verkaufsmodell auf. Das war damals wirklich eine schwierige Zeit für mich.“
Doch jede Krise birgt letztlich auch Chancen. Als Zhang eines Tages den Berghang herabstieg, um den Kopf frei zu bekommen und neue Ideen zu sammeln, sah er einen jungen Mann namens Sanwa, der am Berghang Vieh hütete. Es war ein wirklich idyllisches Bild und Zhang zückte kurzerhand sein Handy, um das ganze per Video festzuhalten. Anschließend stellte er den Clip online. „Womit ich nicht gerechnet hatte, war dass der Clip noch am selben Tag viral ging. Dank des Videos kletterte die Zahl meiner Follower von einigen Hundert auf mehr als 20.000. Und dank ihrer Unterstützung war plötzlich auch unser Hühnerfleisch heiß begehrt und rasch ausverkauft. Das hat mich in meiner Idee, auf die Onlinewirtschaft zu setzen, nochmals bestärkt.“
Der Kreis Xiaojin arbeitete zudem weiter an der Verbesserung der örtlichen Logistikinfrastruktur, ein entscheidender Schlüssel für das erfolgreiche Mitmischen im Onlineversandgeschäft. 2018 konnte der Kreis mit Unterstützung der staatlichen Politik zur Armutsüberwindung große Logistikunternehmen gewinnen, im Kreis zu investieren. Die neuen Bequemlichkeiten, die diese Unternehmen und ihre Dienstleistungen für Händler und Verbraucher mit sich brachten, eröffneten den lokalen Bauern einen größeren Markt für ihre Agrarprodukte.
Auch privat wuchs die Verbundenheit Zhangs mit Ganjiagou und seinen Menschen. „Um meine Arbeit zu unterstützen, gab meine Frau Ende 2018 ihr Geschäft in der Kreisstadt auf und zog in das Dorf Mazu in der Nähe meines Arbeitsplatzes“, sagt Zhang. Seither nennen die Eheleute die abgelegene Gebirgsregion ihre neue Heimat.
„Meine Mutter kümmert sich derweil in einer Mietswohnung in der Kreisstadt um unsere beiden Töchter, die dort zur Schule gehen. An den Wochenenden kommen sie gewöhnlich zu Besuch aufs Land. Für mich ist es immer das Highlight der Woche, wenn die ganze Familie zusammenkommt“, sagt Zhang. Der eingangs erwähnte virale Clip war das Ergebnis genauer einer solchen allwöchentlichen Familienzusammenkunft.
Nachdem das Familienvideo veröffentlicht worden war, erhielt Zhang jeden Tag Hunderttausende Treffer. Sein Onlineerfolg hat alle Nachbarn inspiriert, sich ebenfalls im Posten von Clips zu versuchen. Darüber hinaus bereiten Zhang und seine Nachbarn am Wochenende lokale Spezialitäten und Hausmannkost vor, um Touristen zu bewirten.
Auch Viehhirte Sanwa profitiert von Zhangs Videos. Der 26-Jährige stammt aus einer armen Familie. Er, seine Mutter und seine ältere Schwester sind geistig behindert. Das Vieh bildet ihre einzige Lebensgrundlage. Nach der Veröffentlichung von Zhangs erstem Video nahmen viele Internetnutzer Anteil an Sanwas Schicksal und haben dem jungen Mann und seiner Familie große Unterstützung zukommen lassen. Als die Netzgemeinde erfuhr, dass Sanwa gerne Musik hört und sich einen MP3-Player wünscht, schenkte ihm ein Internetnutzer kurzerhand ein Smartphone.
„Die jahrelange Einsamkeit hat den jungen Mann zurückhaltend und ein bisschen eigenbrötlerisch gemacht“, erzählt Zhang und lacht. „Auf Vorschlag einiger Internetnutzer begleitete ich ihn in die Kreisstadt, um einige lokale Delikatessen zu probieren. Darüber hinaus fuhren wir gemeinsam nach Chengdu, so dass er dort erleben konnte, wie man heute in der Großstadt einkauft und per Smartphone bezahlt“, sagt Zhang. „All diese Erfahrungen haben Sanwa offener gemacht. Darüber hinaus weiß er heute, wie man mit dem Smartphone selbst Videos aufnimmt und mit anderen Internetnutzern interagiert.“
Ländlicher Aufschwung dank Live-Streaming
Speisepilze im Frühjahr, Matsutake-Pilze und Kirschen im Sommer, Äpfel und Birnen im Herbst, Würstchen und Speck im Winter - das ganze Jahr über setzen die Einwohner nun lokale Produkte ab, dank Zhangs Live-Streaming. „Mein Job als erster Parteisekretär ist es, den Dorfbewohnern dabei zu helfen, sich aus eigener Kraft aus der Armut zu befreien und einen Weg zum Reichtum einzuschlagen“, sagt er.
Nach der Veröffentlichung von Zhangs Familienvideo begeistern sich immer mehr Internetnutzer für ein Essenserlebnis vor malerischer Bergkulisse. „Während der vergangenen Nationalfeiertage haben mehr als 50 Personen ein Essen bei meiner Familie reserviert“, sagt Zhang. Doch die wachsende Zahl an Touristen stellt Zhang und die anderen Dorfbewohner auch vor neue Herausforderungen. „Wegen des großen Erdbebens im Jahr 2008 sind die meisten Dorfbewohner, die einst auf dem Berg lebten, eigentlich ins Tal umgezogen. Derzeit leben nur noch drei Familien hier auf dem Berg, darunter auch meine Familie.“ Die Lösung dieses Problems in Bezug auf die Bewirtschaftung und Unterbringung von Gästen im Gebirge stehe bereits auf die Tagesordnung der lokalen Regierung, so Zhang.
Die Onlinepopularität habe entscheidend dazu beigetragen, Touristen ins Dorf zu locken, sagt der Parteisekretär. „Momentan sind wir allerdings nur in der Lage, ihnen ein einfaches touristisches Angebot zu bieten. Um den Menschen in Zukunft noch hochwertigere Urlaubserlebnisse zu bescheren, benötigen wir mehr Kapital für die Renovierung der örtlichen Einrichtungen“, sagt er. Viele Internetnutzer hätten vorgeschlagen, leer stehende und verlassene örtliche Wohnhäuser in Gästeapartments umzubauen, um das Dorf so zu einem Resort für Touristen zu entwickeln. „Es gibt darüber hinaus auch die Idee, am Fuße des Berges ein Weingut zu bauen, um so die Entwicklung der lokalen Industrie durch Tourismus anzukurbeln.“
Auszeit vom Alltag: Dank erfolgreichem Onlinemarketing zieht Ganjiagou immer mehr Touristen an. Viele wünschen sich ein Essenserlebnis vor malerischer Bergkulisse.
Zhangs Amtszeit als erster Parteisekretär zur Armutsüberwindung läuft eigentlich zum Jahresende aus. „Doch für mich ist es keine Option, das Dorf zu verlassen. Ich fühle mich den Menschen hier verbunden und möchte weiter zur ländlichen Entwicklung beitragen“, sagt er.
Große Hoffnungen setzt er dabei auch weiterhin auf die Internetwirtschaft. Insbesondere seine guten Erfahrungen mit dem Live-Streaming bestärken ihn. „Der E-Commerce kann dazu beitragen, das Einkommen der Menschen auf dem Land zu steigern und ihr Leben zu verbessern. Darüber hinaus haben die Möglichkeiten des Internets den Horizont der Menschen hier erweitert. Darauf bin ich sehr stolz.“
Mittlerweile zählt Zhang 800.000 Follower auf seinem Kurzvideo-Account. Inspiriert habe ihn bei seiner Arbeit auch eine Aussage des chinesischen Staatspräsidenten: „Xi Jinping hat während seiner Inspektionsreise in der Provinz Shaanxi im Mai gesagt, dass das Live-Streaming als aufstrebende Geschäftsform nicht nur den Verkauf landwirtschaftlicher Produkte und die Armutsüberwindung ankurbeln, sondern auch den Aufschwung des ländlichen Raums insgesamt fördern könne. Es verspreche eine große Zukunft. Xis Worte haben mich stark ermutigt.“