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Jeder Winter erblüht zu einem neuen Frühling – Das Frühlingsfest in den Augen eines italienischen Autors

2022-01-29 11:33:00 Source: Author:
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Von Adriano Màdaro*

 

Seit den späten 1970er Jahren, als ich erstmals nach China kam, habe ich mehrere Neujahrsfeste im Reich der Mitte verbracht. Jedes Mal war es eine ganz besondere Erfahrung, die ich mit schönen, strahlenden Erinnerungen verbinde. Uns Italiener erinnert das chinesische Neujahrsfest an einige Traditionen von Zuhause. Hierunter fällt vor allem das Festessen mit der Familie, das auch an vielen italienischen Feiertagen im Vordergrund steht. Die Silvesternacht zum Jahreswechsel nach dem westlichen Kalender verbringen junge Italiener dagegen lieber mit Freunden. Bei Tanzveranstaltungen oder auf öffentlichen Plätzen in der Stadt wird dann nicht selten bis zum ersten Morgengrauen des neuen Jahres durchgetanzt.

 

 Festtagsstimmung auf dem Tempelmarkt im Beijinger Ditan-Park während des Frühlingsfestes 2019

 

Ich erinnere mich noch gut an meine Landung im schneeweißen Beijing am Morgen des Silvestertages im Jahr 1980. Ich hatte eine zwanzigstündige Flugreise in den Knochen, vom Herzen Europas war es mit Zwischenstopp im pakistanischen Karatschi in die chinesische Hauptstadt gegangen. Auf dem Weg ins Zentrum zog das Stadtbild Beijings wie Sequenzen aus einem klassischen Film Noir an mir vorbei. Beijing war damals noch nicht vom Strom der Moderne geflutet. Das Beijing Hotel an der Chang'an Avenue war zu diesem Zeitpunkt noch das höchste Gebäude der Stadt.

 

Von meinem Zimmer im achten Stock aus hatte ich einen atemberaubenden Blick auf die umliegenden Straßen. Es hatte mittlerweile aufgehört zu schneien, so dass mein Panorama den gesamten südlichen Teil der Stadt umfasste. Ich erinnerte mich zurück an den Sommer, als Beijing in das Grün der Akazienbäume gekleidet war, aus dem nur die goldgelben Dächer der Verbotenen Stadt herauslugten. Gegen den Schnee wirkte die Struktur der kahlen Bäume auf der grauen Hutonglandschaft, die sich bis zum Horizont vor meinen Augen entfaltete, wie eine traditionelle Stickerei. Über dieser weiß-grauen Fläche erhoben sich in der Ferne die Dächer des Dongbianmen und des Himmelstempels, die beide im Sommer vom Laub verdeckt sind.

 

Der Neumond am Abend des Folgetages läutete das Mondneujahr ein, auch bekannt als “Chunjie” oder Frühlingsfest. Die Wangfujing, Beijings berühmte Einkaufsmeile, die an der nordöstlichen Ecke des Beijing Hotels beginnt, war an jenem Tag so voll, wie ich es noch nie erlebt hatte. Das war zwar angesichts der Fülle an Imbissständen und Einkaufsmöglichkeiten dort auch nicht anders zu erwarten gewesen. Doch der Menschenstrom, der sich hier ergoss, verriet noch mehr, nämlich dass die kürzlich von Deng Xiaoping eingeleiteten Reformen den Menschen ganz offensichtlich Geld in die Taschen spülten.

 

Die Freude der Hauptstädter war förmlich greifbar. Und ich ließ mich gerne anstecken von ihrer Shoppinglaune und der Freude, so viele Waren vorzufinden, die man noch vor ein paar Jahren in chinesischen Regalen niemals gefunden hätte. Inmitten dieses Meeres an Menschen, die größtenteils noch im Blau, Grau oder Schwarz aus vergangenen Tagen gekleidet waren und dennoch vor neuer Fröhlichkeit strotzten, fühlte ich mich als Teil meines persönlichen, eines sehr menschlichen Beijings, wohl wissend, dass sich schon in ein paar Jahren alles grundlegend ändern würde.

 

 Adriano Màdaro, der Autor des Artikels, auf dem Platz des Himmlischen Friedens

während  seines chinesischen Neujahrsbesuchs in Beijing in den 1980er Jahren

 

Dieses neue Jahr schien sich für all die Entbehrungen der Vergangenheit zu rächen. Der goldene Mondteller am weiten, wolkenlosen Himmel war ein gutes Omen, nicht nur für dieses Jahr, sondern auch für die kommenden Jahre. China hatte begonnen, sich der Welt zu öffnen und sich den Herausforderungen der Globalisierung zu stellen.

 

An der Ecke des Jinyu- bzw. Goldfisch-Hutong, inmitten einer gewaltigen Menschentraube, die sich um die Theaterkasse scharrte, stand eine Truppe von extravagant in rote Seide gekleideten Musikern und Schauspielern, die nach Kräften Kunden anlockten. Letztlich waren es aber nicht so sehr ihre Werberufe, die Kundschaft anzogen, sondern vielmehr das leuchtende Rot ihrer Gewänder. Denn Rot ist in China bekanntlich die Farbe des Glücks. Folglich spielt sie bei allen Ritualen rund um das Frühlingsfest eine zentrale Rolle. Sie ist zum Beispiel auch die Farbe der traditionellen kalligrafischen Neujahrsspruchrollen, die vor den Feiertagen an die Türrahmen der Häuser geklebt werden. Auf den roten Papierstreifen sind die besten Wünsche für das neue Jahr verewigt.

 

Die Tische in den Restaurants wurden von ganzen Familien belagert, die meist von außerhalb ins Stadtzentrum gekommen waren. Kaum hatte ich mich in ein kleines Restaurant vorgekämpft, von dem ich gehört hatte, dass man hier besondere Köstlichkeiten der traditionellen Küche auftischte, winkte mich auch schon ein älterer Herr mit weißem Bart mit seinen Stäbchen an seinen Tisch. Es beunruhigte ihn offensichtlich, einen Fremden am Silvesterabend allein sitzen zu sehen. Ich bedankte mich höflich bei ihm, lehnte aber ab, weil er mit seiner Familie feierte und außerdem kein Platz am Tisch war. Aber der alte Mann bestand darauf, dass ich mich zu ihnen gesellte. Er wies seine Verwandten mit einer raschen Geste an, zusammenzurücken, um Platz für mich zu schaffen.

 

Als Hauptgericht gab es dann chinesische Maultaschen (jiaozi), gefolgt von den berühmten südchinesischen Frühlingsrollen (chunjuan) und den obligatorischen Reisnudeln (miantiao), die dem Namen nach ein langes Leben verhießen und deshalb oft fester Bestandteil von Festessen sind. Nach und nach wurden gedünsteter, karamellisierter Karpfen, weicher Schweinebauch in süßer Soße, würziges Huhn und verschiedene Gemüsegerichte aufgetischt, und zum Schluss die mit Spannung erwarteten Neujahrskuchen aus Klebreis (niangao). Dazu gab es reichlich „Ganbei!“ (was auf Deutsch „Prost“ bedeutet, wörtlich aber „Trockne das Glas!“) und Gläser mit feurigem Maotai– dem berüchtigten, heiß in der Kehle brennenden Schnaps aus Guizhou.

 

Die Feuerwerkskörper und Raketen übertrafen jede neapolitanische Piedigrotta, die ich je gesehen hatte. Schließlich ist Schießpulver eine uralte chinesische Erfindung. Und so krachte und donnerte der Himmel über Beijing in der Nacht dieses Neujahrsfestes bis zum Morgengrauen und erstrahlte in allen nur erdenklichen Farben. Die Euphorie eines Volkes, das mit Zuversicht und Enthusiasmus den besten aller Zeiten entgegensah, lag in dieser fernen Nacht glückverheißend in der Luft. In meinem Herzen fühlte ich die Gewissheit, dass das chinesische Volk alle Schwierigkeiten, die sich ihm in den Weg stellen mochten, mit Bravour meistern würde.

 

Am Tag des Mondneujahrs unternahm ich Spaziergänge durch die großen kaiserlichen Parks der Hauptstadt, um mit den Menschen das gerade begonnene Jahr zu feiern. Im Ritan (Sonnentempel)-, Ditan (Erdtempel)- und Tiantan(Himmelstempel)-Park drängten sich die Menschen dicht an dicht. Alle paar Schritte gab es Imbissbuden, improvisierte Teestände, Zuckerwerkkünstler, Nudelmacher, die ihre Kunstfertigkeiten bei der Herstellung handgezogener Nudeln zur Schau stellten. Man sah Geschichtenerzähler, Akrobaten, Zauber- und Falkenkünstler, Männer, die stark genug waren, Ketten zu sprengen, indem sie einfach ihre Brust aufblähten. Man traf auf Schriftgelehrte, Porträtmaler, Bauern, die Flugdrachen und Bambusspielzeug verkauften. Es gab Figuren aus gefärbter Reispaste, die an Ort und Stelle modelliert wurden, Opernsänger, Musiker ... es war wahrlich ein wimmelndes, nicht enden wollendes Füllhorn der Wunder. Es schien, als sei das alte Beijing, das viel zitierte “laobeijing” wie der Chinese sagt, mit seinen alten Traditionen und guten Bräuchen mit einem Mal wie von Geisterhand wieder aufgetaucht.

 

Ich erlebte diese festliche Atmosphäre inmitten der freundlichsten Menschen, die ihre Höflichkeit, ihr Lächeln und ihre Freundlichkeit im Dialog anboten, der – obwohl durch die Sprachunterschiede begrenzt – stets warm und herzlich war. Die Fröhlichkeit der Kinder war ein weiteres wesentliches Element dieses Festes, dessen Kern die Unschuld und die seelische Bereitschaft ist, sich an einfachen, vertrauten Dingen zu erfreuen, etwa an alltäglichen Lebensmitteln, mit denen durch etwas Kochkunst ein köstliches Festmahl gezaubert wird.

 

 

Während seines ersten Neujahrsbesuchs in Beijing hielt Adriano Màdaro drei Szenen zeichnerisch fest:

Schlittschuhlaufende auf dem Kunming-See im Sommerpalast, einen Besucher vor dem Himmelstempel

 und eine Mutter in der Verbotenen Stadt, die ihr Kind in den Armen trägt.

 

In diesen Tagen berührte mich die Menschlichkeit dieses alten Volkes, das im Laufe der Jahrhunderte einen großen Reichtum an Weisheit und Kultur angesammelt hatte, tief in meinem Herzen. Das Neujahrsfest nach dem traditionellen Mond- oder Bauernkalender ist der wichtigste Feiertag in China. Denn für die Landbevölkerung bedeuten die Bewegungen des Mondes die Erneuerung allen Lebens. Für eine alte Zivilisation wie die chinesische gelten die Jahreszeiten und der Rhythmus der Erde als Inbegriff höchsten himmlischen Wohlwollens.

 

Ich hoffe von ganzem Herzen, dass China weiterhin seine Traditionen bewahrt und gleichzeitig nach weiteren wissenschaftlichen Fortschritten zum Wohle der gesamten Menschheit strebt. Und ich hoffe auch, dass der Planet nach der schweren Lektion der Pandemie wieder ein Zuhause für alle wird, in dem wir uns alle für den Schutz der Natur und die Verbindung von Traditionen einsetzen, die unseren Planeten auch weiterhin menschlich machen. Möge das chinesische Mondneujahr – das Frühlingsfest selbst – für alle von gutem Willen beseelten Menschen ein kostbares – wenn auch nicht greifbares – Gut sein.

 

Dies ist letztlich das Fazit, zu dem mich meine Erinnerungen an das als festlich und gastfreundlich erlebte Neujahr in China bringen. Bald wird die Pflaume, der erste knospende Baum, wieder erblühen. Für mich ist sie ein Symbol der Wiedergeburt, der Reinheit und des Wohlwollens, ja des Bewusstseins, dass jeder Winter wieder zum Frühling erblüht.

 

*Adriano Màdaro ist ein italienischer Schriftsteller, Journalist und Chinakenner. Aus seiner Feder stammen mehr als 30 Bücher über das moderne China.  

 

 

 

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