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Wie ein ungebetener „Gast“ China und die ganze Welt in Atem hält

2020-02-06 12:02:00 Source:Beijing Rundschau Author:
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Von Marc-Stephan Arnold


In diesem Jahr habe ich zum ersten Mal mit meinen chinesischen Schwiegereltern das chinesische Neujahrsfest gefeiert. Das wäre Grund genug für mich, einen Bericht über die Feierlichkeiten zum Frühlingsfest zu schreiben, gespickt mit einigen fröhlichen Fotos. Ganz so fröhlich wird dieser Bericht dann leider doch nicht.  

 

Warum nicht? Nun, ein widerlicher, winzig kleiner und äußerst unerwünschter „Gast“ hätte uns fast das Frühlingsfest versaut. Dieser kleine Fiesling hält inzwischen die ganze Welt in Atem. Die Rede ist natürlich von „2019-nCoV“, dem neuen Coronavirus, von dem inzwischen jeder gehört haben dürfte. 

 

Mittwoch, 22. Januar 2020 

 

Voll bepackt mit kleinen Geschenken und Knabberzeug geht es um drei Uhr morgens mit dem Hochgeschwindigkeitszug nach Nanyang in der Provinz Henan. In der Wartehalle Nummer 13 des Beijinger Westbahnhofs herrscht für chinesische Verhältnisse Totenstille, obwohl hier Hunderte Menschen auf den Zug warten. Alle haben Atemschutzmasken auf. Junge Männer sitzen auf Plastiktüten auf dem Boden und spielen mit ihren Smartphones. Junge Mütter treten von einem Bein aufs andere und versuchen, ihre quengelnden Kinder zu beruhigen, ältere Frauen und Männer sitzen auf den Bänken und schauen Ihnen lächelnd dabei zu. Reden tut kaum jemand. Endlich beginnt die Fahrkartenkontrolle.  

 

Mit über 300 Kilometern pro Stunde rasen wir unserem Ziel entgegen. Kaum vier Stunden später werden wir am Bahnhof von Xiao Hu, dem kleinen Bruder meiner Frau, abgeholt. „Habt ihr keine Atemschutzmasken dabei?“, fragt Xiao Hu erstaunt. Für den kurzen Weg zum Auto haben wir sie nicht aufgesetzt. Das bereuen wir jetzt. Um uns herum tragen alle eine. „In der Stadtverwaltung wird derzeit wohl diskutiert, ob eine Ausgangssperre empfohlen werden soll. Lass‘ mal, ich mache das“, sagt er, als ich Anstalten mache, unser Gepäck in den Kofferraum des Autos zu heben.   

 

Gegen Mittag geht die ganze Familie in ein Restaurant. Wir essen Hui-Mian, eine leckere Nudelsuppe, für die die hiesige Region wohl in ganz China bekannt ist. Was wir zu dieser Zeit noch nicht wussten, war, dass dies unser letzter Restaurantbesuch an diesem Frühlingsfest sein würde. Mehr noch: der Restaurantbesuch war das erste und zugleich letzte Mal, dass wir das Haus meiner Schwiegereltern für mehr als zehn Minuten verlassen würden.  

 

Donnerstag, 23. Januar 2020 

 

 

Obligatorische Dekoration: zum Frühlingsfest hängt jede chinesische Familie am Eingang ihres Hauses oder ihrer Wohnung die sogenannten 对联(Duilian, dt. Reimpaare, Spruchpaare) auf, die Glück bringen und die Bewohner des Hauses schützen sollen. [Foto: MSA/BR] 


Die Zahl der mit 2019-nCoV Infizierten sowie der Verdachtsfälle steigt immer schneller.  

 

Trotz der wegen des Virus inzwischen etwas bedrückten Stimmung geht es weiter mit den Vorbereitungen auf das Frühlingsfest. Drinnen kocht meine Schwiegermutter mit ihren Töchtern chinesische Ravioli („Jiaozi“) und andere Köstlichkeiten, draußen hängen die Männer die Neujahrs-Spruchpaare („Duilian“) auf.  

 

Freitag, 24. Januar 2020 

 

Das Frühlingsfest ist da. Abends gibt es Jiaozi. Allerlei Spiele werden gespielt, darunter auch Majiang. Im Fernsehen läuft die Frühlingsfest-Gala, die alle nebenbei schauen. Die Stimmung ist trotz allem gut. Alle wünschen sich gegenseitig ein gutes neues Jahr. Die Kinder erhalten zum Neujahr neben anderen Geschenken auch „Hongbao“, rote Umschläge mit Geld darin. 


 

Beliebtes Geschenk: zum Frühlingsfest werden gerne „Hongbao“ verschenkt – rote Umschläge, in denen in China traditionell Geldgeschenke überreicht werden. [Foto: MSA/BR] 

 


Eine Partie Mahjong (麻将 majiang) gefällig? In China wird es nicht nur zum Frühlingsfest überall gespielt, während der Frühlingsfestferien aber fast in jedem Haushalt. [Foto: MSA/BR]  

 

Bis weit nach Mitternacht wird gespielt, ferngesehen, Musik gehört, gegessen und getrunken. Zumindest für ein paar Stunden haben alle eine gute Zeit.  

 

Samstag, 25. Januar 2020 

 

Wie wir heute aus dem Coronavirus-Nachrichtengewitter auf WeChat hören, wurden Anfang Januar sieben oder acht Ärzte in Wuhan unter Arrest gestellt, da sie versucht hatten, die Öffentlichkeit über ein neues, SARS-ähnliches Virus zu warnen. Die Begründung der Behörden Wuhans für den Arrest lautet, dass die betreffenden Personen „schädliche Gerüchte“ verbreitet hätten. WeChat-Nutzer im ganzen Land sind empört über die Entscheidung der Behörden, welche von selbigen schließlich revidiert wird. 

 

Mein Schwiegervater hat unterdessen die Reservierung in einem bekannten Restaurant der Stadt abgesagt. Man müsse jetzt keine unnötigen Risiken eingehen, sagt er, vor allem, da die Stadt inzwischen den ersten Verdachtsfall einer Ansteckung mit dem neuen Virus habe.  

 

Ja, das Virus. Immer wieder. So langsam fängt der kleine Fiesling an, uns das Frühlingsfest zu versauen. Aber wir geben uns nicht geschlagen. Meine Schwiegereltern beschließen, dass das zweite Festessen nun eben zu Hause stattfindet, auch wenn das eigentlich nicht so geplant war. Nur zwei Stunden später bin ich – wieder einmal – erstaunt, wie viele tolle Gerichte meine Schwiegermama in so kurzer Zeit zubereiten kann. 

 

 

 

So viele Gerichte, dass sie gar nicht alle aufs Foto passen: so sieht ein typischer, reichlich gedeckter chinesischer Esstisch zum Frühlingsfest aus. In der Mitte übrigens die chinesischen Ravioli („Jiaozi“), das allgemein wahrscheinlich beliebteste und bekannteste Gericht zum chinesischen Neujahr. [Foto: MSA/BR] 

 

Nach dem leckeren Essen wird Karten gespielt, wobei der oder die Verlierer das ein oder andere Gläschen chinesischen Schnaps („Baijiu“) trinken muss. 

 

 

Nach dem Essen wird gespielt. Die Verlierer müssen/dürfen Schnaps trinken. Für gute Stimmung ist also – zumindest an diesem Nachmittag – gesorgt. [Foto: MSA/BR]


 

Sonntag, 26. Januar 2020  

 

Eine Künstliche Intelligenz aus Kanada namens BlueDot wollte uns offenbar helfen, doch wir haben ihre Warnungen ignoriert. Diese Nachricht kursiert heute durch die Medien. 

 

Mit einem Schlag wird mir bewusst, dass wir tatsächlich im sagenumwobenen und in vielen Science-Fiction-Filmen und -Romanen beschworenen Jahr 2020 angekommen sind: Künstliche Intelligenzen sind da! Vielleicht noch nicht so hochentwickelt, wie wir uns dass in manchen Träumen, Geschichten und Filmen vorgestellt hatten. Aber sie sind unter uns. Und sie wollen uns helfen! Vielleicht sollten wir ihnen zuhören? 

 

Montag, 27. Januar 2020 

 

Die USA wollen den Flugverkehr zwischen China und Amerika komplett einfrieren. Auf WeChat wird darüber diskutiert, dass die USA wohl planen, China vor der WHO als Gesundheitsrisiko für die gesamte Welt deklarieren zu lassen, um dem Ansehen Chinas und auch der chinesischen Wirtschaft den größtmöglichen Schaden zuzufügen. Ich kann diese Angst vieler Chinesen zwar verstehen, glaube aber nicht, dass die WHO solche Entscheidungen leichtfertig – oder nur auf Wunsch eines einzigen Landes – fällt. Außerdem richtet sich die Ausrufung eines internationalen Gesundheitsnotstandes niemals gegen ein Land, sondern soll dazu dienen, die internationale Gemeinschaft zu warnen. 

 

Dienstag, 28. Januar 2020; „Tag der Rückfahrt“  

 

Meine Schwiegermutter meint es heute besonders gut mit mir. Während der letzten Tage hat sie genau darauf geachtet, welche ihrer allesamt köstlichen Gerichte mir besonders gut munden. Ihre Schlussfolgerung: fenzheng rou(粉蒸肉) müsste ihrem Schwiegersohn besonders gut schmecken. Also steht sie um kurz nach vier Uhr (!) morgens auf, um ihrem Nüxü“(女婿,dt. Schwiegersohn) sein vermeintliches neues Leibgericht zu kochen. Mit dem Resultat, dass in der Mitte des Frühstückstischs heute ein Teller mit einem ganzen Berg an Fleisch steht – und ich keinen einzigen Bissen Fleisch runterbekomme. Dabei schmeckt mir das Essen hier so gut. Aber früh am Morgen kann ich sowas einfach nicht essen. Und bin damit nicht alleine – niemand rührt den Fleischberg an. Arme Schwiegermama.   

 

Draußen ist es äußerst neblig, man sieht keine 20 Meter weit. Im Schritttempo fährt uns mein Schwiegervater zum Bahnhof.  

 

Man kann die Ausnahmesituation, die derzeit in China herrscht, vielleicht auch daran erkennen, dass unser Zug ein wenig Verspätung hat. Das ist wirklich das erste Mal, dass ich das in China erlebe: ein verspäteter Zug! Kann aber auch sein, dass meine Uhr nicht richtig geht. Das ist sogar wahrscheinlicher.  

 

Der Zug ist fast leer. Wir könnten uns aussuchen, wo wir sitzen wollen, sagt uns die Zugbegleiterin und deutet auf mehrere freie Sitzreihen. Wir setzen uns und beginnen sogleich damit, ein wenig von dem Schlaf nachzuholen, der uns in den letzten Tagen dann doch gefehlt hat.

 

Kurz vor dem Ende unserer Fahrt teilt die Zugbegleiterin uns Zettel aus, die wir ausfüllen sollen: woher wir kommen, wo wir hinwollen (Adresse), persönliche Angaben sowie Angaben zu den benutzten Verkehrsmitteln. 

 

 

 

 

Jeder Reisende muss dieser Tage in China ein Infoblatt mit persönlichen Daten sowie Informationen zur Reiseverbindung und Adresse abgeben. [Foto: MSA/Beijing Rundschau] 


 

In Beijing wartet Gesundheitspersonal in Schutzanzügen auf uns. Sensoren messen unsere Körpertemperatur. Die persönlichen Infozettel werden eingesammelt. [Foto: MSA/Beijing Rundschau] 

 

Mittwoch, 29. Januar 2020 

 

Die Lufthansa hat angekündigt, alle Flüge zwischen China und Deutschland für einige Zeit einstellen zu wollen. Meine Eltern melden sich inzwischen täglich bei mir, und auch einige besorgte Freunde haben sich gemeldet. Die Berichterstattung westlicher Medien scheint inzwischen kräftig die „Paniktrommel“ zu rühren. Nachdem ich allen von der tatsächlichen Situation hier vor Ort sowie den massiven Maßnahmen Chinas im Kampf gegen das Virus berichtet habe, sind aber alle erstmal beruhigt. 

 

Die chinesische Bahn hat auf bestimmten Strecken den Zugverkehr stark eingeschränkt oder komplett eingestellt, vor allem in und um Wuhan herum.  

 

Von der Redaktion der Beijing Rundschau erhalte ich die Nachricht, dass alle, die das Frühlingsfest außerhalb Beijings verbracht haben, erst einmal für zwei Wochen in ihrer Wohnung blieben sollen. Gearbeitet werden soll erst ab dem 3. Februar wieder, dann aber erstmal von zu Hause aus. 

 

Donnerstag, 30. Januar 2020  

 

Der deutsche Gesundheitsminister Jens Spahn ist mit einer doch recht merkwürdigen Aussage aufgefallen. Es gebe wegen des neuen Virus in China keinen Grund zur Panik, so Spahn. Ich überlege einen Moment, wie es denn wäre, wenn er vor die Kamera treten würde und sagen würde: „Es gibt Grund zur Panik, bitte werden Sie jetzt alle sofort panisch!“ 

 

Nein, Panik ist nie ein guter Ratgeber. Ich persönlich beginne aber immer dann einen leichten Anflug von Panik zu spüren, wenn Politiker vor die Kameras treten und mir sagen, dass ich nicht in Panik geraten sollte. Aber das mag daran liegen, dass ich Deutscher bin. „German Angst“ und so. 

 

Die Zahl der Infizierten und Verdachtsfälle in Wuhan und anderen chinesischen Städten und Provinzen wächst inzwischen täglich im vierstelligen Bereich.  

 

Freitag, 31. Januar 2020 

 

Vorläufig letzter Eintrag. Die Zahl der erkrankten Personen und der Verdachtsfälle steigt unaufhörlich. Die Weltgesundheitsorganisation hat 2019-nCoV inzwischen zu einer weltweiten Bedrohung erklärt, immer mehr Länder setzen den Flugverkehr nach China zeitweilig aus. 

 

Ich habe großen Respekt vor meinen chinesischen Freunden und meiner Familie hier. Sie alle haben versucht, das Frühlingsfest ordentlich zu feiern, obwohl die Umstände in diesem Jahr wirklich schwierig waren. Aber niemand hier in meinem Umfeld hat panisch reagiert. Niemand wollte sich von diesem ungebetenen Gast namens „2019-nCoV“ das Frühlingsfest verderben lassen. Aber bedrückt war die Stimmung schon. 

 

So ein fieses Virus macht vor Landesgrenzen bekanntermaßen nicht halt, und seine Inkubationszeit von 10 bis 14 Tagen, in der ein Infizierter bereits andere Menschen anstecken kann, sorgt dafür, dass 2019-nCoV nicht einmal entdeckt werden kann, bevor weitere Menschen überall erkrankt sind. Deshalb gibt es einige Lehren, die wir – nicht nur in China, sondern überall auf der Welt – aus diesem Drama ziehen müssen.  

 

Erstens müssen wir meiner Meinung nach aufhorchen und in Zukunft sehr aufmerksam sein, wenn uns beispielsweise KIs oder andere Programme oder Supercomputer etwas über den möglichen Ausbruch einer Krankheit oder über ein potenziell gefährliches Virus mitteilen wollen. Wir schreiben das Jahr 2020, die Zukunft ist da. Und wenn sie uns auch noch nicht übertreffen – die ersten KIs (Künstliche Intelligenzen) sind bereits unter uns. Vielleicht sollten wir ihnen besser „zuhören“? 

 

Ebenfalls zuhören sollten wir selbstverständlich Ärzten und anderen Wissenschaftlern oder Experten, die uns vor potenziellen Gefahren warnen wollen. Das ist schließlich ein wichtiger Teil ihres Jobs. Und im Falle einer potenziellen Epidemie bedeutet jeder einzelne Tag, an dem die Bevölkerung früher gewarnt wird und Gegenmaßnahmen getroffen werden, am Ende Tausende Infizierte weniger – und zwar nicht nur in dem Land, in dem das Virus zuerst auftritt, sondern weltweit.  

 

Drittens sollten wir alle zwar nicht ängstlich, aber immer vorbereitet und wachsam sein. Internationale Gesundheitsnotstände aufgrund von Virusinfektionen wurden in den letzten zehn Jahren etwa fünf bis sechs Mal ausgerufen, also durchschnittlich etwa alle zwei Jahre einer. Einige wichtige Dinge, wie etwa ausreichend Desinfektionsmittel und einfache Atemschutzmasken, nehmen nicht viel Platz weg und sollten in keinem Haushalt fehlen. Auch sonst sollte man über die ausreichende Bevorratung von Wasser und Lebensmitteln nachdenken. Das hat nichts mit Panikmache zu tun, sondern eher mit verantwortungsvollem, (mit-) menschlichem Handeln.   

 

Ich für meinen Teil hoffe nicht nur, dass „2019-nCoV“ bald der Garaus gemacht wird, sondern ich freue mich auch darauf, in Zukunft noch viele Frühlingsfeste gemeinsam mit meiner chinesischen Familie und meinen chinesischen Freunden zu feiern. Dann aber hoffentlich ohne „ungebetene Gäste“. 

 

Quelle: german.beijingreview.com.cn vom 04.02.2020

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