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„Das Desinfektionsmittel kehrt in mein Leben zurück“ - Ein Tag in Beijing im Zeichen des Coronavirus

2020-03-06 11:39:00 Source:China heute Author:
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Von Michael Zárate

 

Sechs Uhr morgens: Der Geruch von Desinfektionsmittel kehrt in mein Leben zurück. Erinnerungen an den Februar 1991 werden wach, als mein Heimatland Peru unvermittelt von einer Cholera-Epidemie heimgesucht wurde, bei der damals fast 3000 Menschen ums Leben kamen. Es war eine schwierige Zeit, auch für unsere Familie: Wir hatten kein Trinkwasser, immer wieder fiel der Strom aus und die Angst vor umherziehenden Kriminellen war allgegenwärtig. In jenem Februar brachte uns meine Mutter bei, das ganze Haus mit Desinfektionsmitteln zu reinigen und zwei Tropfen ins Wasser zu geben, bevor wir es tranken.

 

Aber diesmal ist es nicht meine Mutter, sondern ein engagierter Mann in voller Schutzmontur, der das Desinfektionsmittel in mein Leben zurückbringt. Jeden Morgen, pünktlich um 6 Uhr in der Frühe, desinfiziert er sorgfältig das gesamte Wohngebäude im Beijinger Stadtbezirk Dongcheng, in dem ich lebe. Seit dem chinesischen Neujahrstag, dem 25. Januar 2020 um genau zu sein, geht das nun schon so. Einige Nachbarn strecken ihren Daumen hoch, um den freundlichen Mann zu ermutigen, andere schenken ihm einige Lebensmittel, um ihre Dankbarkeit auszudrücken. Die gemeinsame Bewältigung der Corona-Epidemie hat die Solidarität der Menschen gestärkt. Sie dient uns heute als das beste Schutzmittel in China.

 

Acht Uhr morgens: Eier, Brot, Milch, Obst; Zahlen, Tabellen, Geschichten. In diesen Tagen wird die Frühstückszeit stets von verschiedenen Nachrichten begleitet. Am Tisch kann alles fehlen, nur nicht die täglichen Zahlen neuer Infektionsfälle, die Ratschläge der Fachleute und die Grüße von Freunden auf der anderen Seite des Ozeans. „Pass gut auf dich auf“, schreiben die meisten. Mein Freund George schreibt aus Mailand: „Ich lese jeden Tag und überall Nachrichten über das Virus. Jiayou!“ „Jiayou“ – mit diesem Wort feuern sich die Chinesen im Kampf gegen das Virus in ihrer Landessprache an, und mit ihm macht auch die Welt China Mut in diesem schwierigen Tagen.

 

Um diese Zeit vor ein paar Tagen wurde ich von einer SMS meines Bruders geweckt. Er erzählte mir, dass meine Mutter geweint habe, weil Peru gerade berichtet habe, dass sich die Zahl der Infektionsfälle in China innerhalb eines einzigen Tages vervielfacht habe und sie deswegen sehr besorgt sei. Ein paar Minuten später fragte meine Mutter schluchzend am Telefon, ob ich auch ja eine N95-Maske trüge und schon ein Rückflugticket nach Peru gekauft habe. Sie beruhigte sich jedoch wieder, nachdem ich ihr erklärte hatte, dass der plötzliche Anstieg der Infektionsfälle auf eine neue Diagnosemethode zurückzuführen war. Tatsächlich ist es seit den letzten Wochen nach dem Aufwachen meine erste Aufgabe des Tages, meine Familienmitglieder in der Ferne zu beruhigen.

 

Nachdem ich die Grüße von Verwandten und Freunden gelesen und beantwortet habe, beginn ich, mich mit anderen Botschaften, nämlich für die Presse in Lima zu befassen. Bisher haben schon ein Fernsehsender, zwei Zeitungen, eine Zeitschrift und ein Radiosender mit mir Kontakt aufgenommen. Alle wollen sie mehr über meinen derzeitigen Alltag in Beijing erfahren. Wir stehen in ständigem Kontakt. Beijing ist seit neun Jahren meine Wahlheimat und bis jetzt habe ich keine Pläne, sie zu verlassen. Einer der wichtigsten Gründe für meine Entscheidung liegt darin, dass mich diese Stadt nach all den Jahren noch immer neugierig macht und es für mich noch immer viel Neues über sie zu lernen gibt. In Beijing ist mir alles passiert: Ich habe geliebt und geweint, ich habe Glück erlebt und im Krankenhaus gelegen. Ich verabschiede mich jedes Jahr von einigen Freunden, aber die Stadt selbst scheint mich immer noch willkommen zu heißen, erzähle ich einem Journalisten aus Peru.

 

Einige Fragen kommen zwar plötzlich und unerwartet, jedoch folgerichtig: „Haben Sie Angst?“, „Sehen Sie Menschen auf der Straße sterben?“, „Isst man in China wirklich Fledermaussuppe?“ Vielleicht aus Dankbarkeit, dass ich China schon jahrelang meine Heimat nennen darf, habe ich bewusst die Pflicht auf mich genommen, den Journalisten aus meinem Land die wirkliche Situation in Beijing dieser Tage zu schildern. Ja, es herrscht Sorge, aber keine Angst. Keiner stirbt einfach auf der Straße. Stattdessen werden die Menschen in ihrem Wohnviertel gut organisiert, um gemeinsam gegen die Krankheit Covid-19 und das neuartige Coronavirus anzukämpfen. Der Glaube, alle Chinesen äßen Fledermaussuppe, so erkläre ich dem Journalisten geduldig, sei genauso an den Haaren herbeigezogen wie das Gerücht, alle Peruaner äßen Katzen.

 

Zwölf Uhr mittags: Vera, deren chinesischer Name Yin Yan ist, hat gerade die Tür ihres Schlafzimmers geöffnet. Sie ist seit dreieinhalb Jahren meine Mitbewohnerin. Vera ist eine waschechte Beijingerin und arbeitet in einem bekannten Filmstudio, dessen Büros vor kurzem wieder eröffnet wurden. Ihr Unternehmen hat sorgfältige Präventionsmaßnahmen gegen das neuartige Coronavirus ergriffen und bietet seinen Mitarbeitern sogar psychologische Unterstützung an, welche sie bei Bedarf in Anspruch nehmen können. Als hervorragende Filmredakteurin arbeitet Vera oft bis zum Morgengrauen und wacht erst gegen Mittag auf, weil die Internetverbindung in der Nacht schneller sei, sagt sie.

 

Zwar sind wir zwei keine Ökonomen, verstehen uns aber dennoch auf effiziente Arbeitsteilung. Ich fege den Boden und sie wischt ihn, ich mache den Abwasch und sie trocknet ab, ich kaufe Wasser ein und sie desinfiziert die Wohnung. Und wenn wir beruflich stark eingespannt sind, kommt gelegentlich Frau Song, die in China als Ayi (Putzfrau) bezeichnet wird, einmal pro Woche zu uns. Die fleißige Frau Song stammt aus der Provinz Henan. Sie trägt eine Gesichtsmaske und Handschuhe und hört sich ein Hörbuch auf ihrem Handy an. Sie habe beschlossen, unsere Wohnung wie gewohnt weiter zu reinigen, sagt sie. Darüber hinaus erzählt sie uns stolz, dass ihr Sohn nun an einer Universität studiere.

 

Wenn es die Zeit erlaubt, gehen Vera und ich gemeinsam einkaufen. Heute sehen wir am Eingang unserer Wohnanlage eine rote Parole, die alle auffordert, gemeinsame Anstrengungen zur Bewältigung der Epidemie zu unternehmen.

 

Zwei kleinere Plakate am Eingang erinnern uns daran, dass wir uns beim Betreten des Wohnviertels die Temperatur messen lassen sollten. Einer der Wachleute, ein Mann namens Zhao, ist trotz der klirrenden Winterkälte seit mehr als zwei Wochen wacker am Eingang postiert. Er richtet sein Infrarot-Thermometer auf unsere Stirn oder das Handgelenk und lächelt, wenn der kleine Bildschirm 36 Grad zeigt. Normalerweise stehen neben ihm noch vier bis fünf Menschen, die sich aus Mitgliedern des Wohnviertelkomitees und Freiwilligen zusammensetzen. Unter ihnen entschuldigt sich Frau Zhou dafür, dass sie vor einigen Tagen zu uns gekommen und in unsere Privatsphäre eingedrungen ist, indem sie uns Fragen stellte wie „Seit wann sind Sie in China?“, „Sind Sie in der letzten Zeit nach außerhalb gereist?“, „Was ist Ihre Passnummer und Ihre Telefonnummer?“, „Wie viele Menschen leben in Ihrer Wohnung?“, „Sind Sie in gutem Gesundheitszustand?“.

 

Vier Uhr nachmittags: In den Straßen rund um Dongzhimen sieht man jetzt wieder mehr Menschen. Einige Geschäfte haben wieder geöffnet, darunter auch ein Nagelstudio, eine Bäckerei im französischen Stil und ein Laden für Haustierbedarf. In der Raffles City Mall empfangen fast alle Restaurants wieder Gäste, obwohl es nur wenige davon gibt. Alles steht im Gegensatz zu dem, was wir vor zwei Wochen gesehen haben: Das einst lebhafte Arbeiterstadion, das Shopping- und Ausgehviertel Sanlitun und die Chunxiulu waren damals noch so einsam und still wie die Filmenden beim italienischen Regisseur Dario Argento.

 

Vor zwei Wochen, als in Beijing ein starker Schnee fiel, sind wir in der Nähe unseres Wohnviertels spazieren gegangen. Alle Restaurants waren geschlossen und alle Reservierungen storniert worden. Einige Gaststätten verkauften Gemüse und Fleisch auf der Straße, um die bereits getätigten Investitionen nicht zu verschwenden und die wirtschaftlichen Verluste in Grenzen zu halten. In der Nähe der U-Bahnstation hörten wir einen Aufruf zum Blutspenden aus einem Lautsprecher. Alle Apotheken waren zwar geöffnet, Gesichtsmasken allerdings wurden nirgends mehr angeboten. Jetzt kehrt überall langsam wieder die Realität ein.

 

Sechs Uhr abends: Magdalena, meine chilenische Kollegin, die wie ich für die spanische Ausgabe der Zeitschrift „China heute“ arbeitet, und mit uns draußen unterwegs war, macht sich auf den Heimweg, um das Abendessen zuzubereiten. Mitbewohnerin Vera und ich steuern einen nahegelegenen Supermarkt an. Mangel an Nahrungsmitteln bestand für uns in den letzten Wochen nie. Unser Kühlschrank ist gut gefüllt mit allem, was wir für das heutige Abendessen brauchen: Nudeln, Hühnerfleisch, Pilze, Auberginen, Käse und Erdbeeren. In einer Filiale einer bekannten Minimarkt-Kette in der Xinfucun-Straße bedauert ein Ehepaar, dass einige ihrer Lieblingsimportprodukte nicht mehr vorrätig sind. Zwei Verkäuferinnen, die mehrere Tage hintereinander Überstunden geleistet haben, spenden ihnen Trost und erinnern sie daran, was für ein Glück es doch letztlich ist, dass wir in Beijing selbst in diesen Tagen noch eine derart große Warenauswahl haben.

 

Zurück zu Hause schauen wir uns noch einmal die Stadt an, aber diesmal mit anderen Augen. Wir gehören leider nicht zu den Ärzten und Krankenschwestern, die an vorderster Front im Kampf gegen das neue Coronavirus stehen. Leider sind wir auch keine „Kuaidi“, also Expresszulieferer, die den ganzen Tag über hart arbeiten, damit die Menschen der Millionenmetropole Beijing mit ihren mehr als 20 Millionen Einwohnern wie gewohnt online einkaufen können. Leider sind wir keine Reinigungskräfte, die durch ihre fleißigen Hände die Straßen und Plätze der Hauptstadt in diesen Tagen blitzblank halten. Und wir sind leider auch keine Busfahrer oder U-Bahn-Mitarbeiter, die auf ihren Posten bleiben, um für die wenigen Menschen, die noch die öffentlichen Verkehrsmittel nutzen, den Betrieb aufrecht zu erhalten. Alles, was ich in meinem Falle tun kann, ist die Geschichten dieser namenlosen Helden, die in den Medien oft keine Erwähnung finden, zu notieren.  

 

Neun Uhr abends: Nach dem Abendessen entschließen wir uns, einen Film anzuschauen - es bereits der achtzehnte Streifen, den wir in diesen Tagen gemeinsam sehen. Magdalena hatte die Idee, dass wir nach dem Ende der Epidemie alle Filme bewerten und eine Rangliste erstellen. Für heute Abend fallen uns zunächst einige Oscar-Kandidaten ein, aber letztlich entscheiden wir uns für den französischen Streifen „Irreversible“, in dem die Geschichte rückwärts erzählt wird: vom Ende bis zum Anfang.

 

Auch ich beginne darüber nachzudenken, die Geschichte dieser Tage in Beijing in umgekehrter Reihenfolge zu erzählen. Ich stelle mir einen Anfang vor, bei dem alle über die Beseitigung von Covid-19 jubeln. Ich stelle mir vor, dass die U-Bahn in der Hauptverkehrszeit überfüllt und die Stadt voller Menschen ist, die sich in Restaurants, Bars und Kulturzentren drängen. Ich stelle mir vor, dass die alten Damen wieder glücklich in den Stadtparks tanzen. Das wäre der Anfang, aber das Ende wäre nicht in Beijing, sondern in Lima. Die Geschichte würde im Februar 1991 enden, als mein Heimatland Peru von einer Cholera-Epidemie heimgesucht wurde, als uns meine Mutter die Nutzung von Desinfektionsmitteln beibrachte und mein Vater mir und meinen Geschwistern einen Rat mit auf den Weg gab: „Habt keine Angst und seid vorsichtig!“



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