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Diyag in Tibet: Heimat dreier Generationen

2021-05-10 13:12:00 Source: Author:
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Von Zhao Shubin und Wen Kai*

 

Wir befinden uns im Dorf Diyag in der Präfektur Ngari. Es liegt im Westen des Autonomen Gebiets Tibet. Der Fluss Xiangquan hat hier eine Schlucht und eine Oase geschaffen. Nachdem er sie passiert hat, fließt er weiter durch das Himalaya-Gebirge bis nach Indien.

 

Es ist die Heimat des 78-jährigen Ngodrup Palden. In jungen Jahren schlug er sich einst im Ausland durch, Kaschmir, Indien und Nepal gehörten zu seinen Stationen. Doch er kehrte schließlich in die alte Heimat zurück und pflanzte als erster einen Aprikosenbaum. Heute ist der Anbau der Früchte hier zu einem wichtigen Geschäft geworden. Yang Guifang, 62, kam vor rund 25 Jahren aus der östlichen Küstenprovinz Jiangsu nach Diyag und ließ sich schließlich nach der Heirat mit einer Einheimischen dauerhaft nieder. Diyag ist für ihn heute wie eine zweite Heimat. Dekyi Chodron, Bachelor-Studentin kurz vor dem Examen, zog es hingegen erst einmal in die Ferne. Sie verließ ihre Heimat in den Bergen und reiste quer durchs Land, um an der Universität Hainan ganz im Süden Chinas zu studieren. Sie möchte einmal groß Karriere machen. Doch ihrer Heimat fühlt sie sich nach wie vor eng verbunden.

 

Es sind drei Menschen mit ganz unterschiedlichen Lebenserfahrungen, die wir hier porträtieren. Verbinden tut sie das gemeinsame Verständnis von Heimat und Vaterland, Diyag und China.

 

Zurück zu den Wurzeln

 

„Besonders schwer waren die Jahre, als ich im Ausland lebte und arbeitete. Ich war wie ein Bettler“, sagt Ngodrup Palden. Der Senior kam im kleinen Dorf Sibgyi am Fuß des Gebirges Lakema zur Welt, unweit der chinesisch-indischen Grenze. 1962 verließ er seine Heimat und lebte sechs Jahre im Ausland. Angesprochen auf seine Erlebnisse und Erinnerungen der damaligen Zeit, seufzt er.

 

„Damals war mein Vater noch am Leben. Er schrieb mir, dass unsere Vorfahren seit Generationen hier lebten und ich zurückkehren sollte. Das Auskommen in der Heimat sei besser geworden, versicherte er.“ Heute, gut ein halbes Jahrhundert später, lebt der 78-Jährige mit seinem erwachsenen Sohn Gangzhu Jorje tatsächlich wieder in der alten Heimat, und zwar in einem modern ausgestatteten Haus in einem neu errichteten Demonstrationsdorf nahe der Grenze. Vor dem Fenster strecken Bäume ihre Äste gen Himmel, zwischen Zweigen und Blattwerk blinkt das Weiß der schneebedeckten Berggipfel in der Ferne hindurch. Der alte Mann blickt zu seinem Sohn, während er über die Vergangenheit sinniert. Unbewusst kommt ihm der gleiche Satz über die Lippen, den einst schon sein Vater vor 60 Jahren zu ihm sagte: „Unsere familiären Wurzeln sind hier!“

 

Sohn Gangzhu Jorje, 42, lehnt in seinem Kurzarmhemd an der Tür und hört aufmerksam zu. Das harte Leben seines Vaters von früher könnte kaum unterschiedlicher sein vom Dasein der heutigen Generation. Seit der Einführung der Reform- und Öffnungspolitik 1979, insbesondere seit dem 18. Parteitag 2012, hat das Grenzdorf große Veränderungen erlebt. Heute führt eine Buslinie direkt bis vor die Haustür und die Dorfbewohner erhalten staatliche Unterstützung. Sie haben Zugang zu Bildung und medizinischer Versorgung. Das schwierige Leben seines Vaters von einst steht im starken Kontrast zur heutigen Zeit, in der die Dorfbewohner in Frieden leben und mit Freude ihren Tätigkeiten nachgehen. Ein wissendes Lächeln huscht über Gangzhu Dorjes Gesicht, als sein Vater erklärt, dies sei „die glücklichste Zeit seines Lebens“.

 

Am Hang vor dem Wohnhaus liegt ein Obstgarten mit üppigen Aprikosen- und Apfelbäumen, die in der Sonne glitzern. Süße und duftende weiße Aprikosen sind eine lokale Spezialität. Der Sohn zeigt stolz auf den ältesten Aprikosenbaum. Sein Vater sei es gewesen, der damals die weißen Aprikosen erstmals nach Diyag brachte.

 

Diyag hat eine lange Tradition im Obstanbau. 1985 tauschte Ngodrup Palden fünf Kilogramm Yakbutter und drei Ziegen gegen 200 Aprikosensetzlinge von einem indischen Händler. Einige der Setzlinge gab er seinen Nachbarn, die übrigen pflanzte er selbst auf einem kleinen Stück Land vor seinem Ahnenhaus. Heute sind Äpfel, Aprikosen und Aprikosenwein zu den wichtigsten Einnahmequellen für die Menschen hier geworden. Sie haben es ihnen ermöglicht, sich aus der Armut zu befreien und einen Weg zum bescheidenen Wohlstand einzuschlagen.

 

Gangzhu Dorje jätet Unkräuter am Fuß der Obstbäume. Dank seiner fleißigen Arbeit tragen die Pflanzen Jahr für Jahr reichliche Früchte. „Unter Anleitung der KP Chinas führen wir heute ein glückliches Leben, das sich mein Großvater und auch mein Vater niemals hätten erträumen lassen. Es ist unsere Pflicht, unsere schöne Heimat zu beschützen“, sagt er.

 

Obwohl die verschiedenen Generationen unterschiedliche Geschichten zu erzählen haben, gibt es doch eine Konstante – die unverändert tiefe Liebe der Menschen zu ihrer Heimat.




In seinem Obstgarten erzählt Gangzhu Dorje die Geschichte seines Vaters.

 

Ein Han-Chinese im fernen Tibet

 

Yang Guifang stammt aus Xuzhou, einer Stadt in der ostchinesischen Provinz Jiangsu. Als wir ihn besuchen, sind er und seine Frau Tseji Drolma mit ihrem Enkel gerade dabei, die frisch gepflückten Aprikosen im Hof zum Trocknen auszulegen.

 

Yangs Haar ist mittlerweile grau und flauschig. Er spricht aber noch immer mit deutlichem Xuzhou-Akzent der alten Heimat. „Ich war ursprünglich Buchhalter einer Baufirma. 1996 kam ich zum ersten Mal mit einem Team nach Diyag, um die Verteidigungsanlagen hier im Grenzgebiet zu renovieren“, erzählt er. Menschen in Not zu helfen, das war ihm schon immer ein Anliegen. Er selbst hatte jedoch lange eine Pechsträhne. Mit 19 starb seine Liebste an Krankheit. Nach ihrem Tod beschloss Yang, am Boden zerstört, für den Rest seines Lebens Single zu bleiben. Aber wie es das Schicksal so wollte, nahm sein Leben eine andere Wendung, als er während seiner Arbeit in Tibet Tseji Drolma kennen lernte. „Sie war Witwe und alleine mit zwei Kindern. Wir hatten gleiche emotionale Erfahrungen gemacht und verliebten uns ineinander“, sagt er.

 

1997 kehrten Yang und Tseji Drolma nach Xuzhou zurück, um zu heiraten. Doch Tseji Drolma fiel es schwer, sich an das Leben in der Fremde zu gewöhnen. Am Ende verabschiedete sich Yang von seinen Eltern und Verwandten und reiste mit seiner Frau zurück nach Diyag, um ihr ein vertrautes Lebensumfeld zu bieten. Aus dem einstigen Buchhalter Yang wurde über Nacht der Landwirt Yang.

 

Heute verdienen er und seine Familie ihren Lebensunterhalt durch die Bestellung eines halben Hektars Ackerland sowie durch Rinder- und Schafszucht. Yang hat alles unternommen, um sich gut einzuleben. Wir begleiten ihn auf die Weide. Zu Fuß oder zu Pferd inspiziert er die Grenze seines Grundstücks. Könnerhaft schwingt er heute die tibetische Sichel zum Grasschneiden. Dass das nicht immer so war, davon zeugt eine Narbe auf seiner Hand. In seiner Freizeit baut er mit anderen Einheimischen Straßen und Brücken, um die örtliche Infrastruktur zu verbessern. Die Nachricht vom Tod seiner Eltern erreichte ihn hier in der Ferne erst mit einiger Verspätung. Ihm blieb nichts anderes übrig, als eine Butterlampe anzuzünden, um Vater und Mutter Tausende von Meilen entfernt zu betrauern. „Mein Zuhause ist hier“, sagte er heute. In den vergangenen rund 25 Jahren ist die Familie viermal umgezogen, zunächst von einer einfachen Hütte in ein Steinhaus, dann in eine mit staatlichen Subventionen finanzierte Neubauwohnung und schließlich in das gut ausgestattete Wohnhaus, in dem die Yangs heute leben.

 

Enkel Palbar Chogyal ist Yangs ein und alles. Er hat ihm einen han-chinesischen Namen gegeben, Yang Changmin, was „glücklicher Bewohner“ bedeutet, verbunden mit der Hoffnung, dass die Menschen hier im Grenzgebiet für immer ein wohlhabendes und glückliches Leben führen.




Yang Guifang (Mitte) im Gespräch mit Besuchern.

 

Von den Bergen an die Küste zum Studium

 

Die 20-jährige Dekyi Chodron stammt ebenfalls aus Diyag und studiert derzeit an der Hainan-Universität in der gleichnamigen südchinesischen Inselprovinz. Von ihrer Heimat trennen sie gewöhnlich mehr als 5000 Kilometer. Wir treffen die junge Frau auf Heimatbesuch. „Ich bin glücklich in der Umarmung meines Vaterlandes aufgewachsen. Als Studentin aus dem Grenzgebiet bin ich stolz darauf, dass China sich rasant entwickelt“, sagt sie.

 

Zuhause bei ihrer Familie wird uns ein leicht milchiges Getränk gereicht. Der selbst gebraute Aprikosenwein gilt als Ausdruck der Gastfreundschaft hier in Diyag. Dekyi Chodron bittet ihre Großmutter, ein altes Volkslied zur Begrüßung anzustimmen. Gleichzeitig füllt sie die Gläser wieder mit Aprikosenwein, um die Atmosphäre aufzulockern. Nur ihre Oma wisse noch, wie man dieses Lied nach alter Tradition singe, sagt sie. Wir lauschen dementsprechend gespannt.

 

„Das malerische Tal ist wie ein Zelt, Diyag wie eine von grünen Bergen und klarem Wasser umgebene Welt, in der man sich die Geschichte dreier Schwestern erzählt …“. Das melodiöse Volkslied erzählt von einer Legende: In der Zeit des Gurga-Königreiches planten drei Schwester aus dem Dorf Sibgyi einst einen Besuch im Kloster Toling. Aber die beiden älteren Schwestern ließen sich vom Hochgebirge abschrecken, nur die jüngste erreichte ihr Ziel, indem sie Aprikosen-Öl - eine Spezialität ihrer Heimat - auf dem Rücken trug.

 

Diyag liegt tief in den Bergen versteckt und war früher in den kalten Wintertagen mit starkem Schneefall vom Rest der Welt abgeschnitten, bis zum nächsten Frühling. Den über 200 Kilometer entfernt gelegenen Kreis Zanda über die Berge zu erreichen, war damals vor allem im Winter ein schier unmögliches Unterfangen. Heute ist Diyag durch eine gut in Schuss befindliche Asphaltstraße mit der Außenwelt verbunden.

 

Die Geschichte von Diyag zeigt, dass China es vermag, alle Orte des Landes, egal wie abgelegen sie auch sein mögen, in ein wohnliches Zuhause zu verwandeln.



 

Dieses Lied kennt nur noch die Oma: Dekyi Chodrons Großmutter stimmt ein altes Volkslied an,

um die Gäste willkommen zu heißen.


*Zhao Shubin und Wen Kai sind Reporter der „Tibet Daily“.

 

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