Von Li Yuan
Wir schreiben den 25. Juni 2021, Punkt 10.30 Uhr Ortszeit. Untermalt von dem bekannten chinesischen Volkslied „Heavenly Road“ rollt der erste Hochgeschwindigkeitszug in der Geschichte der Volksrepublik China in den Bahnhof von Lhasa ein. Durch die Inbetriebnahme dieser ersten elektrischen Bahnstrecke im Autonomen Gebiet Tibet gibt es nun eine direkte Schienenverbindung zwischen Lhasa und der Stadt Nyingchi. Der neue Zug läutet damit eine neue Ära des Hochgeschwindigkeitsverkehrs auf dem Hochplateau ein.
Großer Fortschritt für die Einheimischen
Lange war der Bau einer Eisenbahnlinie in Tibet ein unerreichter Traum. Bereits 1919 hatte Sun Yat-sen den Bau einer Bahnverbindung zwischen Lhasa und Lanzhou vorgeschlagen. Der australische Reporter Henry Donald, der damals für den amerikanischen „The New York Herald“ schrieb, hielt dies für unmöglich. „Selbst Yaks können diese Region nicht erreichen“, so schrieb er. Wer hätte gedacht, dass aus der Idee von damals nach Gründung der Volksrepublik Realität werden sollte?
Am 1. Juli 2006 wurde die Qinghai-Tibet-Eisenbahn offiziell dem Verkehr übergeben. Tibet ohne Eisenbahn ist seither Geschichte. Die neue Zugverbindung gab den Startschuss für eine neue Ära in der Entwicklung des modernen Verkehrs in der Region. Am 15. August 2014 ging in einem weiteren Schritt die Lhasa-Xigaze-Bahn in Betrieb, durch welche sich die Fahrtzeit zwischen den beiden Städten von sechs (per Bus) auf weniger als drei Stunden reduzierte. Die Inbetriebnahme der neuen Hochgeschwindigkeitsstrecke Lhasa-Nyingchi im Sommer markiert nun einen weiteren Meilenstein in der Eisenbahnentwicklung auf dem „Dach der Welt“.
Die neue Hochgeschwindigkeitsbahn hat das Leben der Menschen auf dem Hochplateau spürbar verändert. Wir sprechen mit dem zwölfjährigen Jamyang Qoizhag, der gerade mit seiner Familie per Hochgeschwindigkeitszug von Lhasa zurück nach Xigaza unterwegs ist. Jeden Sommer nehme seine Mutter ihn und den Bruder zu einer Reise mit, erzählt er uns. Früher seien sie mit dem Bus gefahren, dann noch einmal mit einem herkömmlichen Zug, heute säßen sie erstmals im Hochgeschwindigkeitszug. „Es ist meine erste Fahrt mit einem solchen Zug“, erzählt der Junge. „Es ist blitzschnell und echt bequem. Und gut aussehen tut das Ding auch“, schwärmt der Zwölfjährige. „Jetzt in der Reisehauptsaison ist es gar nicht so einfach, Tickets für den neuen Zug zu bekommen“, wirft seine Mutter ein. „Wir haben drei Tage im Voraus online gebucht und so hat es geklappt.“
Nach Ferien in Lhasa: Der zwölfjährige Jamyang Qoizhang und seine Familie
sind per Zug auf dem Weg zurück in die Heimat.
Laut Dazhin, der Leiterin für den Personenverkehr am Bahnhof Lhasa, wird die neue Linie hauptsächlich von Menschen genutzt, die zwischen Lhasa und Xigaze, den beiden größten Städten Tibets, pendeln. Bevor die Linie in Betrieb ging, war man mehr als sechs Stunden per Bus unterwegs. Nun dauert die Fahrt exakt zwei Stunden und 35 Minuten. „Der Zug ist nicht nur schneller, sondern auch sicherer als der Überlandbus“, sagt Dazhin. Im Sommer müsse der Straßenverkehr oft eingestellt werden, sobald der gefrorene Boden auftaue und die Straßen gefährlich matschig würden. Und im Winter sei das Autofahren sogar noch gefährlicher. Es komme immer wieder zu tödlichen Unfällen. „Die Eisenbahn ist deshalb mittlerweile die erste Wahl für die Einheimischen“, sagt Dazhin. Im vergangenen Jahr seien 779.000 Menschen vom Bahnhof Xigaze abgefahren, sechsmal so viele wie noch 2014.
Die neue Bahnlinie hat nicht nur den öffentlichen Verkehr verbessert, sondern auch die wirtschaftliche Entwicklung in Tibet beflügelt. Der Westbahnhof von Lhasa ist der größte und höchstgelegene Güterbahnhof Südwestchinas. Laut Bahnhofsvorsteher Zhang Qiang umfassen die Waren, die hier eintreffen, alles, was man sich vorstellen kann, von der Nähnadel bis zur Baustahlstange. Er sagt: „Das Wetter auf dem Plateau ist sehr wechselhaft und Straßen- und Luftverkehr gelten traditionell als wetteranfällig. Hier kann der Schienentransport ganz klar punkten, er ist praktischer, sicherer und auch schneller. Zudem ist per Bahn auch eine Kühllagerung möglich, so dass dieser Verkehrsweg für viele Versender heute die erste Wahl ist“, sagt Zhang.
In den letzten 15 Jahren hat sich die Zahl der Logistikunternehmen vor Ort von vier auf über 40 erhöht. Die von ihnen versandten Waren umfassen auch Wasserflaschen, Bier und andere Lebensmittel. 2006 verließen 20.000 Tonnen Güter den Bahnhof, 291.000 Tonnen trafen ein. Bis 2020 sind die Aus- und Einfuhrzahlen auf der Schiene hier auf 491.000 bzw. 6,15 Millionen Tonnen gestiegen. Es gab also ein 20-faches Plus beim Frachtvolumen, sagt Zhang. „Der zunehmende Warenfluss nach und aus Tibet zeugt von der Verbesserung des Lebensstandards der Bevölkerung hier“, sagt er.
Tibet der Außenwelt näher bringen
Was die Eisenbahnentwicklung auf dem Hochplateau angeht, hat das Bahnpersonal natürlich Erfahrung aus erster Hand. Dazhin gehörte zu den ersten Angestellten der China Railway Qinghai-Tibet Group. In ihren 15 Berufsjahren erlebte sie die Fertigstellung der Eisenbahnlinien Qinghai-Tibet, Lhasa-Xigaze und Lhasa-Nyingchi mit. Auch war sie Zeuge, wie der Bahnhof Lhasa vom höchsten Gebäude der Umgebung allmählich zu einem kleinen Gebäude „schrumpfte“, neben dem sich heute Wolkenkratzer in die Lüfte recken. „Sobald die Eisenbahn eine Region erreicht, verleiht das der örtlichen Wirtschaft einen ordentlichen Schub“, sagt sie.
Liu Mengjiao ist Chefschaffnerin des Zugs D8983 und arbeitet seit neun Jahren auf der Strecke Qinghai-Tibet. Die Landschaften, die am Fenster vorbeiziehen, seien noch immer dieselben, im Inneren der Züge habe es dagegen bemerkenswerte Veränderungen gegeben. „Die Züge sind heute nicht nur besser ausgestattet, sondern auch schneller unterwegs. Das macht das Bahnfahren immer attraktiver.“ Auch an die Sicherheit sei gedacht. Die neuen Hochgeschwindigkeitszüge seien alle mit Notfall-Sauerstoffsets unter jedem Sitz ausgestattet. „Die Sicherheit der Passagiere kommt immer an erster Stelle“, betont Liu.
Seit der Inbetriebnahme der neuen Hochgeschwindigkeitsbahn waren bisher alle Züge mit ihren 755 Plätzen restlos ausgebucht. Liu und ihre Kollegen haben auf diese Weise zwar alle Hände voll zu tun, freuen sich aber über den Zuspruch der Fahrgäste. „Die Passagiere helfen uns oft beim Verstauen großer Gepäckstücke. Und auch wir helfen, wo wir nur können, zum Beispiel wenn es mal Sprachbarrieren gibt“, sagt Liu. Der Zug habe die Tibeter der Außenwelt näher gebracht, was den Menschen hier die Chance gebe, sich besser an das moderne Leben anzupassen, sagt sie.
Im Zug sind neben Chinesen verschiedener Nationalitäten auch Ausländer zu sehen. „Vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie begrüßten wir täglich zahlreiche Touristen aus Europa, den USA und Südostasien“, sagt Liu. Um ihnen professionellen Service anzubieten, habe die Crew eigens ein Team aus Mitarbeitern mit guten Englischkenntnissen gebildet. „Ein Händedruck oder ein Schulterklopfen ausländischer Passagiere ist Ausdruck ihrer Zufriedenheit mit unserer Arbeit“, sagt die Chefin des Service-Personals an Bord. „Die Eisenbahn hat die Entfernung zwischen Tibet und dem Rest der Welt deutlich verkürzt. Heute kommen Menschen aus aller Welt nach Tibet, um die Region besser kennen zu lernen. Ich bin wirklich stolz darauf, auf dieser Strecke im Einsatz zu sein“, so Liu.
Jungfernfahrt: Am 25. Juni 2021 rollte der erste Zug der neuen Eisenbahnlinie Lhasa-Nyingchi
in den Bahnhof von Lhasa ein. Zwei Passagiere nutzten die Gelegenheit für einen Erinnerungsschnappschuss.
Ausbau des Schienennetzes
Die Qinghai-Tibet-Bahn ist die längste und höchstgelegene Eisenbahnlinie der Welt und verläuft über den längsten Abschnitt gefrorenen Bodens. Sie gilt daher als technisches Meisterwerk in der Geschichte des Eisenbahnbaus. Dabei bildet die Strecke erst den Anfang. China hat bereits angekündigt, in den kommenden Jahren weitere Eisenbahnen in Tibet bauen zu wollen.
Der Abschnitt Ya’an-Nyingchi der Sichuan-Tibet-Eisenbahn ist bereits im Bau begriffen, die Vorbereitungsarbeiten für die Strecken Yunnan-Tibet und Xinjiang-Tibet laufen nach Plan. Auch stehen Projekte zur Elektrifizierung der Abschnitte Xigaze-Gyirong der Linie China-Nepal, Golmud-Lhasa der Qinghai-Tibet-Linie sowie der gesamten Lhasa-Xigaze-Bahn in den Startlöchern. Und es laufen die Vorbereitungen für ein unterstützendes Projekt zur Energieversorgung.
Die Lhasa-Xigaze-Linie bilde die erste Verlängerung der Qinghai-Tibet-Bahn, erklärt Zhang Qiang. „Es befinden sich bereits weitere Linien im Bau, welche die Orte an der Grenze zu Nepal an das chinesische Streckennetz anschließen werden. Später sollen sich auch mit den Streckenverbindungen in Nepal verbunden werden“, sagt er. Die im Bau befindliche Ya’an-Nyingchi-Linie sei Teil der Sichuan-Tibet-Eisenbahn. Sie bilde das letzte noch fehlende Teilstück zur Komplettierung der Verbindung zwischen Sichuan und Tibet.
Laut Angaben des offiziellen WeChat-Kontos der China State Railway Group misst die Ya’an-Nyingchi-Linie insgesamt 1011 Kilometer. Die Züge sollen Geschwindigkeiten zwischen 120 und 200 Kilometern pro Stunde erreichen. Entlang der Strecke werden insgesamt 26 Bahnhöfe gebaut. Die Gesamtinvestitionen belaufen sich auf schätzungsweise 319,8 Milliarden Yuan. Im November 2020 fiel der Startschuss für die Bauarbeiten, in zehn Jahren soll das Mammutprojekt abgeschlossen sein. Nach der Fertigstellung wird man auf dem Schienenweg in nur zehn Stunden von Lhasa nach Chengdu gelangen können.
Das Eisenbahnnetz, das in den kommenden Jahren in Tibet entstehen wird, soll maßgeblich dazu beitragen, den Transportbedarf der Region zu decken, erklärt ein zuständiger Mitarbeiter der Kommission für Entwicklung und Reform des Autonomen Gebiets auf Anfrage. Die schnelle Entwicklung der Eisenbahn trägt letztlich nicht nur zur Modernisierung der örtlichen Verkehrsinfrastruktur bei und verbessert das lokale Geschäftsumfeld, sondern dürfte die gesamte sozioökonomische Entwicklung Tibets beflügeln. Und das wiederum trägt zu einer qualitativ hochwertigen Entwicklung und dauerhaften Stabilität in der Region bei.