Von Helmut Matt*
Wer heute über China spricht, der blickt auf ein aufstrebendes, dynamisches und sich in großem Tempo entwickelndes Land, dessen Wirtschaftskraft mittlerweile Weltmaßstab geworden ist. China, das ist überall: Chinesische Spitzentechnologie ist gerade dabei, den Weltmarkt zu erobern, chinesische Konsumartikel sind aus den Einkaufszentren der Welt nicht mehr wegzudenken und auch im Tourismusbereich prägen Chinesen das Bild.
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Aushängeschild der Reform und Öffnung: Die aus einem ehemaligen Fischerdorf erwachsene Millionenmetropole Shenzhen ist zum Symbol des fulminanten Erfolges der Reform- und Öffnungspolitik geworden, die China seit rund 40 Jahren betreibt. |
Was heute selbstverständlich erscheint, das war vor nicht allzu langer Zeit noch kaum vorstellbar. Meine erste persönliche Begegnung mit einem Menschen aus dem Reich der Mitte hatte ich Mitte der 1980er Jahre. Erst wenige Jahre zuvor hatte das damals weitgehend abgekapselte und verschlossene Land damit begonnen, sich vorsichtig nach außen zu öffnen und im Inneren wichtige Reformen einzuleiten. In diesem Zusammenhang durften auch die ersten Studenten zum Austausch ins Ausland reisen. Li Jie hieß die freundliche junge Kommilitonin, die ich damals im Studentenwohnheim kennen lernte. Sie kam nach Deutschland, um die deutsche Sprache zu erlernen und um ein Semester lang an der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg zu studieren. Trotz sprachlicher Barrieren gelangen viele gute Gespräche. Es war spannend für mich, direkt aus erster Hand vom Leben in China zu erfahren und auch Li Jie war neugierig darauf, herauszufinden, was die Menschen in Deutschland bewegt. Einmal schenkte sie mir ein kleines rotes Döschen mit einer Medizin gegen Erkältung und Schnupfen. Die Medizin ist längst aufgebraucht, den kleinen Behälter habe ich bis heute als Andenken aufgehoben.
Es waren bewegte Tage, als sich vom 18. bis zum 22. Dezember 1978 in Chinas Hauptstadt Beijing die Delegierten zur dritten Plenartagung des XI. Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas zusammenfanden. Was dort in der Großen Halle des Volkes beschlossen wurde, war ein derart einschneidender Wandel, dass Historiker manchmal auch von einer „neuen Revolution" oder „zweiten Revolution“ sprechen. Die Rede ist von der Einführung der bereits oben genannten „Reform- und Öffnungspolitik". Die bestimmenden Themen jener Plenartagung waren die „Befreiung des Denkens“ und die „Demokratie“. Konkret bezog sich der Begriff „Reform und Öffnung“ auf zwei wichtige politische Felder: Reform im Inneren und Öffnung nach außen.
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Deng Xiaoping (rechts) auf der bedeutenden dritten Plenartagung des XI. Zentralkomitees der KP Chinas. Auf dieser Plenartagung wurde die wichtige Entscheidung getroffen, den Schwerpunkt der Arbeit der Partei und des Staates auf den Wirtschaftsaufbau zu verlagern. |
Durch die Reform im Inneren sollten das Wirtschaftssystem und auch andere Parameter, durch welche die Entwicklung der Produktivkräfte ausgebremst worden war, fundamental umgestellt werden. Als ersten Schritt für die Öffnung leitete die neue Staatsführung die Errichtung von vier Sonderwirtschaftszonen (darunter Shenzhen) ein. Als weitere Schritte sollten die Küsten-, Fluss- und Grenzgebiete geöffnet werden - bis hin zur vollen Beteiligung an der wirtschaftlichen Globalisierung.
Reform- und Öffnungspolitik, das bedeutete in erste Linie Abkehr vom Klassenkampf als leitendes Prinzip und Hinwendung zum wirtschaftlichen Aufbau des Landes als oberster Prämisse. Die eingeleiteten Reformen bedeuteten die endgültige Abkehr vom sowjetischen Modell der Planwirtschaft des Sozialismus und die Hinwendung zu einem Sozialismus chinesischer Prägung mit dem Ziel einer friedlichen Entwicklung und der sozialistischen Modernisierung des Landes.
Spricht man von der Politik der Öffnung Chinas, dann ist damit der Name jenes führenden Politikers untrennbar verbunden, der die Wende von der strikten Planwirtschaft hin zu einem freieren Staats- und Wirtschaftssystem eingeleitet hat und zweifellos als deren Architekt gilt. Deng Xiaoping ist nicht nur der Vater der Öffnungspolitik. Seine Reformen waren auch die Grundlage für den atemberaubenden wirtschaftlichen Erfolg Chinas, das sich in weniger als drei Jahrzehnten von einem armen Dritte-Welt-Land zu einer der führenden Wirtschaftsmächte der Welt entwickelt hat. So wurde Deutschland bereits vor knapp zehn Jahren von China im Hinblick auf die Wirtschaftskraft überflügelt.
Deng Xiaoping sagte einmal: „Während der Zeit, als Lin Biao und die ,Viererbande’ ihr Unwesen trieben, wurden die demokratischen Rechte des Volkes mit Füßen getreten."
Von diesem Zustand ist heute nichts mehr übriggeblieben. China hat sich mit der Reform- und Öffnungspolitik aus Armut und innerer Erstarrung befreit und sich zu einer Gesellschaft voller Lebenskraft und Vitalität gewandelt. Wer sich heute auf den Weg durch die Straßen und Plätze chinesischer Städte und Dörfer macht, wird erstaunt sein von der bunten Vielfalt und dem fröhlichen Leben im Alltag der Chinesen. Die Reform- und Öffnungspolitik vermochte es, die chinesische Zivilisation neu zu beleben und dem Volk mit dem wachsenden wirtschaftlichen und politischen Erfolg sein Selbstbewusstsein und seinen Stolz zurückzugeben.
Vierzig Jahre sind nun seit der Einführung der Reform- und Öffnungspolitik vergangen. Ohne Deng Xiaopings mutigen Schritt hätte es die weithin sichtbare Öffnung und Befreiung im politischen und gesellschaftlichen Bereich sicher nicht gegeben. In China hat sich mittlerweile eine sehr weltoffene und vielfältige Gesellschaft entwickelt. Während meiner mittlerweile zahlreichen Aufenthalte in China ab dem Jahr 2005 gab es in Gesprächen mit Chinesen nach meinem Ermessen weder Tabuthemen noch Probleme mit kontroversen Debatten. Ich war oft überrascht über die Diskussionsfreudigkeit, die Kreativität und die freiheitliche Gedankenwelt vieler meiner Gesprächspartner. Auch im kulturellen Bereich findet man im heutigen China eine vor einigen Jahren noch unvorstellbare Blüte und Vielfalt: Von der Pekingoper zum experimentellen Theater, vom traditionellen Volkslied über klassische chinesische und europäische Musik bis hin zu Techno und Rap ist im Musiksektor fast alles vertreten. Ähnlich bunt sieht es in der darstellenden Kunst oder im schriftstellerischen Bereich aus. Eine kaum zu erfassende Vielfalt an literarischen Werken konnte China im Jahr 2009 als Gastland der Frankfurter Buchmesse präsentieren – darunter auch die frisch erschienene deutsch-chinesische Edition meines ersten Romans „Im Zauber der weißen Schlange“.
Eine Umorientierung im Sinne einer harmonischen Gesellschaft, wie sie von der letzten chinesischen Staatsführung unter Hu Jintao eingeleitet worden war, wäre heute undenkbar, hätte nicht Deng Xiaoping auf jener denkwürdigen Plenartagung im Dezember 1978 die Reformen eingeleitet, die vielen Millionen Chinesen mehr Freiheit und Wohlstand gebracht haben.
In den chinesischen Provinzen finden sich auch heute noch große wirtschaftliche Unterschiede und soziale Differenzen. Es gibt den reichen Osten und den relativ unterentwickelten Westen. Vorwürfe einiger westlicher Medien, China vernachlässige seine westlichen Provinzen zugunsten des Ostens, sind undifferenziert und wenig fundiert. Ohne die wirtschaftliche Blüte in den erfolgreichen Regionen wäre die umfassende Entwicklung und Förderung der weniger entwickelten Gebiete, wie sie die chinesische Regierung heute praktiziert, gar nicht möglich. Es gibt nur wenige Länder der Erde, in denen die Staatsführung so große Anstrengungen unternimmt, Wohlstandsdifferenzen in den verschiedenen Regionen zu nivellieren und soziale Ungerechtigkeiten auszugleichen, wie in China.
Einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung des Landes in allen Regionen wird ganz sicher das Projekt der Wiederbelebung der alten Seidenstraße leisten, an dem mittlerweile mehr als 70 Staaten und Organisationen beteiligt sind. „Ein Gürtel und eine Straße“, so der Name des Projekts, das Chinas Staatspräsident Xi Jinping bereits im Jahr 2013 während einer Dienstreise durch Mittel- und Südasien aus der Taufe hob.
Ziel dieses Projekts ist es, die vollzogene Öffnung nach außen zu erweitern, das Zusammenwirken mit anderen Ländern auf der Basis gegenseitigen Nutzens zu intensivieren und damit der nationalen wie internationalen Wirtschaft neue Impulse zu verleihen. Mit der neuen Seidenstraßen-Initiative ist es gelungen, die Reform- und Öffnungspolitik nicht nur fortzuführen, sondern sie zugleich auf eine höhere Stufe zu heben.
Auch das neue Konzept der „Reform der Angebotsseite“ ist als Fortführung der Reform- und Öffnungspolitik Deng Xiaopings zu verstehen. In seinem Bericht auf dem XIX. Parteitag der KP Chinas hob Xi Jinping hervor: „Mit Blick auf die strukturelle Reform der Angebotsseite als zentraler Punkt muss der Wandel der Qualität, der Effizienz und der Antriebskräfte der wirtschaftlichen Entwicklung vorangetrieben werden.“
In diesem Zusammenhang ist geplant, zur Ankurbelung der Konjunktur durch Innovationen, Ausmusterung veralteter Produktionsmittel, den Abbau von Schulden und überschüssiger Produktionskapazitäten sowie die Verringerung der Steuer- und Abgabenlast neue Produktivkräfte chinesischer Unternehmen freizusetzen und damit ihre Konkurrenzfähigkeit zu verbessern. Zudem soll die aktive Finanzpolitik intensiviert und die gegenwärtige moderate Geldpolitik fortgeführt werden. Zentrales Ziel ist eine Optimierung der Wirtschaftsstruktur – zur Förderung von Wachstum und Wohlstand.
Im Rahmen der Eröffnung des G20-Gipfels in der ostchinesischen Stadt Hangzhou am 3. September 2016 hielt der chinesische Staatspräsident Xi Jinping eine wichtige Grundsatzrede mit dem Titel „Neuer Ausgangspunkt der chinesischen Entwicklung, neuer Fahrplan des globalen Wachstums". Darin sagte er unter anderem: „Viele Leute fragen, ob die chinesische Wirtschaft ein nachhaltiges und stabiles Wachstum realisieren kann, ob China die Reform- und Öffnungspolitik weiterführen kann und ob die Volksrepublik die Falle des mittleren Einkommens vermeiden kann. Taten sagen mehr als Worte. China hat diese Fragen mit tatsächlichen Aktionen beantwortet."
China stehe, so Xi weiter, vor einem neuen historischen Ausgangspunkt für die umfassende Vertiefung der Reformen und der Schaffung einer neuen Antriebskraft für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung. Man stehe am Beginn einer neuen Normalität der Wirtschaftsentwicklung, einer Umstrukturierung der Wirtschaft, einer tiefgreifenden Interaktion zwischen China und der Welt sowie der weitgehenden Öffnung Chinas, so Xi weiter. Man darf gespannt sein!
Noch ein Wort zum Chinabild im Westen: Eher einseitig und unreflektiert sind viele Berichte westlicher Medien, die sich angeblich mit der Menschenrechtslage in China befassen. Sicher, es gibt auch im heutigen China noch kritikwürdige Vorgänge. Die Tendenz westlicher Journalisten aber, die aktuelle Situation in China auf das Bild eines Staates zu reduzieren, der permanent die Freiheitsrechte seiner Bürger missachtet, wird der tatsächlichen Lage im Land ganz gewiss nicht gerecht. Man gewinnt bei der Lektüre westlicher Zeitungen oft den Eindruck, dass die Autoren, die über China schreiben, stets nur gegenseitig voneinander ihre Halbwahrheiten und Vorurteile abschreiben und dabei das Land, über das sie berichten, noch nie mit eigenen Augen gesehen haben. Die Tatsache, dass der kontinuierliche Reformprozess von Verwaltung und Justiz die Menschenrechtslage ganz erheblich verbessert hat, wird den Konsumenten westlicher Medien weitgehend vorenthalten. Unsere Journalisten täten gut daran, sich vor Ort ein Bild von der wirklichen Situation im Land zu verschaffen, anstatt sich unkritisch auf Aussagen Dritter zu stützen, ohne deren genauen Wahrheitsgehalt zu kennen.
Vierzig Jahre Reform- und Öffnungspolitik: Nicht nur die Chinesen profitieren von der erfolgreichen Umsetzung der Öffnungspolitik Deng Xiaopings. China ist mittlerweile zu einem der wichtigsten Motoren der Weltökonomie geworden. Während die Menschen in westlichen Ländern von ebenso preiswerten wie hochwertigen chinesischen Produkten profitieren, bietet sich China als einer der größten und profitabelsten Absatzmärkte der Welt an. Das hohe Maß an Wohlstand, das wir heute in unserer Welt genießen, wäre ohne die chinesische Wirtschaftskraft überhaupt nicht denkbar.
Im Rückblick auf die Ausgangslage im Jahr 1978 wird die Dimension des Erfolgs der Reform- und Öffnungspolitik besonders offenkundig. Aus einem armen Land der Dritten Welt ist ein überaus dynamischer Motor für die ganze Weltwirtschaft geworden. Auf dem G20-Gipfel von Hangzhou hat Chinas Staatspräsident Xi Jinping ein chinesisches Konzept für die Weltkonjunktur vorgeschlagen und eine Erweiterung der Wirtschaftsräume gefordert. China sei bereit, so Xi, „sich mit allen Beteiligten beim G20-Gipfel in Hangzhou gemeinsam zu bemühen, um eine starke, nachhaltige, ausgewogene und inklusive Weltwirtschaft voranzutreiben."
Zum bevorstehenden 40. Jahrestag der Reform- und Öffnungspolitik Deng Xiaopings und den damit verbundenen Erfolgen möchte ich all meinen Freunden in China und dem ganzen chinesischen Volk sehr herzlich gratulieren und meine besten Wünsche für viel Glück und Erfolg bei der Fortsetzung der vielfältigen Reformprozesse übermitteln.
*Helmut Matt ist ein bekannter deutscher Schriftsteller und Chinawissenschaftler.