Von Ma Li
Ein staatlich subventioniertes Versicherungsprogramm für die Langzeitpflege alter Menschen – dieses Modell hat China im Beijinger Stadtbezirk Shijingshan bereits erprobt, mit Erfolg. Durch das neue Programm wird ein Großteil der Pflegekosten für Senioren mit schweren körperlichen Einschränkungen durch eine spezielle Pflegeversicherung abgedeckt. Schrittweise wird das Pilotprogramm gerade auf geistig behinderte Menschen ausgeweitet, basierend auf den Kapazitäten der jeweiligen Lokalregierungen bei der Erbringung derartiger Versicherungsdienstleistungen.
Hinter der erfolgreichen Umsetzung des neuen Versicherungsprogramms steht eine politische Beraterin, die daran gearbeitet hat, eine erschwingliche Lösung für die Langzeitpflege von Senioren zu finden, die ihren Alltag nicht mehr eigenständig bestreiten können. Die Rede ist von Sun Jie. Die Chinesin ist Mitglied des Landeskomitees der Politischen Konsultativkonferenz des Chinesischen Volkes (PKKCV) sowie stellvertretende Dekanin der School of Insurance der University of International Business and Economics.
PKKCV-Mitglied Sun Jie
Die zündende Idee kommt bei einem Seminar
Bereits im April 2012 wurde Sun zu einem Seminar über Pflegeversicherung eingeladen, das damals vom Gesundheitsministerium veranstaltet wurde. Vor dem Hintergrund einer zunehmenden Bevölkerungsalterung schlugen einige Experten bei dem Treffen vor, ein öffentliches Versicherungssystem für Langzeitpflege einzurichten. Was sie jedoch übersahen, war das Problem der Mittelbeschaffung für ein solches Mammutprojekt.
Dank ihrer langjährigen Lehr- und Forschungserfahrung hatte Sun schon damals ein tiefes Verständnis für den Pflegeversicherungsbereich. „Die Pflegeversicherung ist eigentlich ein Versicherungsprodukt mit Sozialversicherungsfunktionen. Doch China war noch nicht so weit, es zu einem Teil seines Sozialversicherungssystems machen zu können. Von daher machte es Sinn, kommerzielle Versicherungsgesellschaften zu ermutigen, derartige Produkte anzubieten und die Versicherung in das Leistungspaket für die arbeitende Bevölkerung aufzunehmen“, erinnert sich Sun.
In den Industrieländern ist der Bereich Pflegeversicherung bereits gut entwickelt. Die zugehörigen Versicherungsprodukte spielen dort schon seit geraumer Zeit eine wichtige Rolle bei der Streuung und Verlagerung der Belastungen und Risiken der nationalen Grundkapitalversicherung, genauso wie für die Stabilisierung von Beschäftigungsverhältnissen, die Verbesserung des Lebensstandards der Rentner sowie für die Förderung der Entwicklung der Finanzdienstleistungsbranche und des Kapitalmarktes.
International gibt es im öffentlichen Bereich zwei Hauptmodelle, um älteren Menschen Versicherungsschutz durch entsprechende Programme zu bieten. Das erste Modell ist typisch für Deutschland und Japan. Beide Länder integrieren ihre Senioren in das allgemeine Sozialversicherungssystem. Das zweite Modell wird unter anderem in den Vereinigten Staaten praktiziert. Hier werden private Versicherungsunternehmen dazu ermutigt, spezielle Versicherungsprodukte für die ältere Generation zu entwickeln. „Es war für China damals jedoch weder realistisch, die Versicherung in das grundlegende Sozialversicherungssystem aufzunehmen noch private Versicherungsgesellschaften mit der Entwicklung der neuen Versicherungsprodukte zu betrauen“, so Sun Jie.
Sie sagt: „Ich war deshalb mit den Vorschlägen bei dem Treffen aus praktischen Gründen nicht einverstanden.” Erstens sei es schwierig gewesen zu entscheiden, ob das geplante Versicherungsprogramm universell oder selektiv sein sollte, erklärt sie. „Bei einem universellen Ansatz hätte die Frage im Raum gestanden, wie mit der großen Kluft in der Zahlungsfähigkeit von Stadt- und Landbewohnern umgegangen werden sollte. Wer sollte die Beitragszahlungen für die Armen übernehmen? Wie sollte auf die Bedürfnisse von Menschen in unterschiedlichem Gesundheitszustand eingegangen werden? Würden dagegen nur städtische Angestellte abgedeckt, würde dies dem Ziel zuwiderlaufen, das Sozialversicherungssystem für alle gleichermaßen zugänglich zu machen“, erinnert sie sich.
Zweitens sei es schwierig gewesen, über die Finanzierungsquelle und die Beitragssätze zu entscheiden. Die Finanzierung sei letztlich der Schlüssel zur Schaffung eines Pflegeversicherungssystems, gibt Sun Jie zu bedenken. „Derzeit zahlen die Unternehmen in China für die verschiedenen Versicherungsprogramme ihrer Mitarbeiter – darunter Rentenversicherung, Krankenversicherung und Arbeitslosenversicherung. Sie tragen außerdem auch zur Zahlung an die Unterstützungskasse für Wohnraum der Arbeitnehmer bei. All diese Beiträge machen mehr als 40 Prozent des Gesamtlohns aus, den Arbeitgeber ihren Arbeitnehmern zahlen. Daher wäre es für Unternehmen denkbar schwierig, zusätzlich auch noch die Kosten für ein weiteres Versicherungsprogramm zu stemmen.“
Drittens sei es schwierig gewesen, den Förderbedarf der Versicherungsempfänger zu bestimmen. „Sollte man allen Menschen ab 60 Jahren eine Erstattung anbieten, wie es die Rentenversicherung tut, oder sollte man sich an den tatsächlichen Bedürfnissen der Versicherten orientieren? Und für den letzteren Fall: Was sollten die Kriterien sein? Es gab also viele offene Fragen. Und für all diese Probleme musste zunächst eine Lösung her, bevor ein solches Versicherungsprogramm gestartet werden konnte“, sagt Sun Jie.
„Nach dem Seminar machte ich mir intensiv Gedaken darüber, wie ich mein Fachwissen einbringen konnte und wie eine solche Versicherung trotz aller Widrigkeiten möglichst rasch zu verwirklichen war“, so Sun weiter.
Ein bei drei Gelegenheiten vorgelegter Vorschlag
2013 wurde Sun Jie zum Mitglied des 12. PKKCV-Landeskomitees gewählt. Im gleichen Jahr unterbreitete sie bei den Tagungen des Nationalen Volkskongresses (NVK), Chinas obersten Gesetzgebungsorgans, und des Landeskomitees der PKKCV, des obersten politischen Beratungsgremiums des Landes, schließlich den Vorschlag zur Förderung von Pflegeversicherungsprogrammen für ältere Menschen mit steuerlichen Anreizen. Im Juli desselben Jahres erhielt sie von der China Insurance Regulatory Commission eine Antwort auf ihren Vorschlag. „Das gab mir Hoffnung“, sagt sie.
Zwei Jahre später legte Sun ihren Vorschlag in überarbeiteter Form dann erneut bei den beiden Jahrestagungen vor. Am 3. Juli 2015 erhielt sie eine Antwort vom Nationalen Komitee für Altersfragen, das dem Staatsrat untersteht. „In dem Antwortschreiben hieß es, dass die zuständigen Behörden das Krankenversicherungssystem des Landes weiter verbessern, den Abdeckungsbereich der medizinischen Grundversicherung ausweiten und mehr Energie in die Untersuchung einer Langzeitpflegeversicherung für Senioren investieren sollten“, sagt Sun. Aus dem Antwortschreiben ging also hervor, dass das Thema die gebührende Aufmerksamkeit der obersten politischen Entscheidungsebene auf sich gezogen hatte. „Die Einführung einer solchen Pflegeversicherung wird letztlich Hunderten von Millionen Menschen mit körperlicher Beeinträchtigung zugutekommen“, sagt die Versicherungsexpertin.
Um das Eisen zu schmieden, solange es noch heiß war, erneuerte Sun den Vorschlag und brachte ihn auch bei den beiden Jahrestagungen im Jahr 2016 erneut zur Sprache. „Diesmal bekam ich eine Antwort vom Ministerium für Humanressourcen und soziale Sicherheit, und zwar nach Rücksprache dieser Behörde mit dem Ministerium für zivile Angelegenheiten, dem Finanzministerium und der nationalen Gesundheitskomission. Da war mir klar, dass das Programm Realität werden würde, da es auf der Tagesordnung verschiedener funktionaler Abteilungen stand“, sagt Sun. Das Ministerium erklärte in seinem Antwortschreiben, man plane, zunächst Pilotprogramme zu implementieren und außerdem Erfahrungen aus dem In- und Ausland in die Einführung eines solchen Versicherungssystems einfließen zu lassen. Nur wenige Tage später veröffentlichte das Ministerium dann Richtlinien für Pilotprogramme zur Einführung einer entsprechenden Pflegeversicherung.
Neue Amtszeit, gleiches Ziel
Dank ihres gewissenhaften Engagements als politische Beraterin wurde Sun Jie 2018 erneut zum Mitglied des 13. PKKCV-Landeskomitees gewählt. „Mein Fokus in der neuen Amtszeit verlagerte sich auf die landesweite Ausweitung der Pilotprogramme“, erzählt sie.
Bei den Jahrestagungen 2019 schlug sie vor, einen stabilen und nachhaltigen Finanzierungsmechanismus für die geplante Pflegeversicherung aufzubauen. Laut dem gemeinsamen Antwortschreiben der nationalen Krankenversicherungsverwaltung, des Finanzministeriums und des Ministeriums für Humanressourcen und soziale Sicherheit hatte die Zahl der von den Pilotprogrammen abgedeckten Personen in 15 Städten und zwei Provinzen bis Ende Juni 2019 bereits 88,54 Millionen erreicht. 426.000 Menschen waren die Kosten für die tägliche Pflege durch das System erstattet worden. Der jährliche Erstattungsbetrag pro Kopf belief sich auf rund 9200 Yuan.
In ihrem Tätigkeitsbericht 2019 versprach die chinesische Regierung, die Pilotprogramme auszuweiten. „Insgesamt führten daraufhin rund 50 Städte eine Langzeitpflegeversicherung ein“, berichtet Sun.
Eine stabile Finanzierung ist für die Pflegeversicherung von grundlegender Bedeutung. „Zu Beginn des Pilotprojekts schlug ich eine gemischte Finanzierung aus verschiedenen Quellen vor, ganz einfach weil die finanzielle Situation jeder Pilotstadt sich unterschiedlich gestaltete“, sagt Sun. Ein weit verbreiteter Ansatz bestehe darin, den Überschuss der Grundversicherung für arbeitende Stadtbewohner zu verwenden und den Beitrag von Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu einem Fonds zu erhöhen, erklärt sie. „Das Problem bei diesem Finanzierungsansatz ist allerdings, dass ein Ungleichgewicht zwischen Beitrags- und Erstattungsverantwortung besteht.“
In Suns Augen sollte die Pflegeversicherung ein öffentliches System sein. In Bezug auf den Fundraising-Mechanismus zeigte die Antwort auf Suns Vorschlag aus dem Jahr 2019 einige Optionen auf. Die erste bestand darin, ein völlig neues System einzurichten, das unabhängig von der derzeitigen Grundversicherung betrieben wird; die zweite Option ist, Arbeitgeber und Einzelpersonen zu den Hauptfinanzierungsquellen zu machen. Die staatliche Unterstützung für die Finanzierung sollte sich nach dem Stand der Wirtschaftsentwicklung richten, hieß es in dem Schreiben weiter.
„Die Einführung einer Pflegeversicherung wurde in den 14. Fünfjahresplan (2020-2025) aufgenommen, und ich bin zuversichtlich, dass die Abdeckung des Systems bis 2025 auf die gesamte Bevölkerung ausgeweitet werden kann”, sagt Sun. „Dann werden nicht nur Menschen über 60 Jahre, sondern auch alle Menschen mit Behinderungen von dem Programm profitieren“, zeigt sich Sun mit dem bisheringen Fortkommen des Projekts zufrieden.