Von Gao Zhuan
Die Legende von Liang Shanbo und Zhu Yingtai zählt neben der „Geschichte der weißen Schlange“, „Tränenfrau Meng an der Großen Mauer“ und „Die tragische Liebe des Kuhhirten und der Weberin“ zu den vier berühmtesten Liebestragödien des chinesischen Altertums und ist seit mehr als 1700 Jahren im Volk überliefert. Die beiden Helden Liang Shanbo und Zhu Yingtai werden als Inbegriff der tragischen Figuren der chinesischen Dramaturgie betrachtet und in verschiedensten künstlerischen Genres immer wieder neu dargestellt.
Nachdem es dem deutschen Schriftsteller Helmut Matt im Jahr 2008 sowohl in literarischer als auch in historischer Hinsicht gelungen war, den Sagenstoff der „weißen Schlange“ zum Roman „Im Zauber der weißen Schlange“ zu verarbeiten, brachte er vor gut einem Jahr den Roman „Schmetterlingsliebe: Die Legende von Liang Shanbo und Zhu Yingtai“ heraus, der meines Erachtens aufgrund seiner originären Anlage, der kunstvollen Erzählformen und einer beeindruckenden Figurengestaltung nur zu empfehlen ist.
Die Grundlagen der Rezeptionsästhetik wurzeln zweifelsohne in dem traditionsreichen chinesischen Stoff selbst, auf den der Autor zurückgreift. Dennoch gelingt es Matt, die Geschichtlichkeit des chinesischen Stoffes durch seine eigene „geschichtsbildende Energie“ neu zu formen. Statt starr an den Einzelheiten der alten Überlieferung zu haften, wird im Roman ein aktueller und deutscher Bezug herausgearbeitet und damit ein völlig neuer Erzählrahmen geschaffen. Der Höhepunkt der tragischen Handlungen von Liang Shanbo und Zhu Yingtai (Zhu Yingtais Sprung in Liang Shanbos Grab und die Schmetterlingsmetamorphose der beiden, vgl. S. 162 – 166) hat sich der Legende nach am Berg Laoshan unweit der Stadt Qingdao zugetragen. Und so wählt Matt ein chinesisches Mädchen, das heute als Lehrerin arbeitet, als Erzählerin. In einer Grünanlage Qingdaos erzählt die junge Frau ihrem Verlobten aus Europa, der kurz davor steht, eine Arbeitsstelle in China anzutreten, die alte Legende.
Die Stadt Qingdao ist vielen Deutschen kein fremder Begriff. Dazu bemerkt der Autor im Vorwort: „Trotz aller kolonialen Überheblichkeit während der ,deutschen Jahre‘ scheinen die Menschen im heutigen Qingdao kaum negative Ressentiments gegenüber der Zeit zu empfinden, in der die Stadt noch von einem deutschen Gouverneur regiert und verwaltet wurde. Oben auf dem Qingdao-Berg kann man aus dieser Epoche noch eine ehemalige deutsche Kaserne sehen. Die Zeit heilt bekanntlich auch tiefere Wunden.“ (S. 10) Durch ein glücklich verliebtes Pärchen der Moderne wird die alte tragische Liebesgeschichte in Matts Roman neu erzählt. Zum Schluss sagt der Verlobte der Erzählerin: „Was für ein trauriges Schicksal! Wir können von Glück sagen, dass wir heute unser Leben selbst in die Hand nehmen dürfen. Nach allem, was du mir gestern und heute erzählt hast, wird mir bewusst, dass die gesellschaftlichen Freiheiten, die wir heute genießen, unschätzbar wertvoll und keineswegs selbstverständlich sind.“ (S. 168)
In diesem neuen Erzählrahmen stellt Matt Inhalt und Gehalt der Legende durch verschiedene Erzählformen dar. Dem Publikum wird so nicht nur der ästhetische Charakter der chinesischen Legende, sondern auch landeskundliches Wissen über die Wirklichkeit des antiken China vermittelt. Geschickt wechselt der Autor dabei zwischen der auktorialen und der neutralen Erzählweise. Bei der ersteren bringt der allwissende Erzähler sich selbst ins Spiel und greift kommentierend und urteilend ein, was beispielsweise in der folgenden Passage zum Ausdruck kommt: „Im alten China galt es als selbstverständlich, dass Frauen von Bildung, Wissenschaft und Kunst weitgehend ausgeschlossen waren – diese sozialen Bereiche waren ausschließlich den Männern vorbehalten. Solche aus heutiger Sicht archaisch anmutenden gesellschaftlichen Regeln und moralischen Zwänge bestimmten das Gefüge der chinesischen Gesellschaft über viele Jahrhunderte, ja Jahrtausende in nahezu unveränderter Weise.“ (S. 19) In dieser Erzählweise werden dem Publikum Perspektiven auf die alte chinesische „Welt“ eröffnet und neues Wissen vermittelt und der Autor ermöglicht es dem Leser auch, seinen Erkenntnishorizont zu erweitern und die chinesische Kultur besser verstehen zu lernen.
Die wichtigen Handlungen, insbesondere die tragische Kollision, werden in neutraler Erzählweise zu Sprache gebracht, das heißt, der Erzähler tritt hinter die Figuren zurück und wir verfolgen das ganze Geschehen durch die Augen der Protagonisten. Kennzeichnend dafür ist die Dialogführung im Roman. Um ihre Sehnsucht nach Freiheit auszudrücken, sagt Zhu Yingtai dem Dienstmädchen etwa: „Ach wäre ich doch ein Schmetterling und könnte von Blume zu Blume, von Garten zu Garten und von einem Ort zum nächsten fliegen.” „Wie herrlich ist es in der Natur und wie kostbar ist doch die Freiheit!“ (S. 28) Nachdem die „Katastrophe” eingetreten ist, sagt Liang Shanbo zu seiner Geliebten: „Wenn wir beide uns lieben und wenn unsere Herzen für einander schlagen, dann werden wir uns immer fühlen, uns finden und uns niemals aus den Augen verlieren, was immer auch die Welt um uns herum mit uns vor hat.“ (S. 140-141) Durch solch spannende Dialogführung werden die Figuren charakterisiert und dem Publikum wird der dramatische Konflikt unmittelbar vor Augen geführt.
In stilistischer Hinsicht zeichnet sich der Roman durch seinen lebendigen, anschaulichen und bildlichen Sprachgebrauch aus. Zudem enthält das Buch auch viele eindrucksvolle Abbildungen.
In der literarischen Komparatistik wird oft die Ansicht vertreten, dass die Legende von Liang Shanbo und Zhu Yingtai „Chinas Romeo and Julia“ sei. Durch Helmut Matts Verdichtung wird ein Beitrag dazu geleistet, dass diese berühmte chinesische Legende in Zukunft noch größere Verbreitung im deutschsprachigen Raum findet und über nationale Grenzen hinweg zu einem Stück Weltliteratur heranwächst.
Helmut Matt: „Schmetterlingsliebe: Die Legende von Liang Shanbo und Zhu Yingtai“, 1. Auflage 2014, Wiesenburg Verlag, 168 Seiten, ISBN 978-3-95632-202-0.