Sie wollen schnell Gewicht zulegen? Dann feiern Sie das Frühlingsfest in einer chinesischen Familie. Das chinesische Frühlingsfest ist das wichtigste Fest in China. Es gibt viele freie Tage und einige Familien haben nur während dieser Zeit die Gelegenheit, sich alle wieder zu sehen. Traditionell wird sehr, sehr viel gegessen, wenn im chinesischen Mondkalender das neue Jahr näher rückt.
Zum Frühlingsfest findet eine regelrechte „Völkerwanderung“ innerhalb Chinas statt und deshalb ist man gut beraten, wenn man sich so früh wie möglich Zug- oder Flugtickets reserviert. Mit viel Glück erhielten wir noch Zugtickets nach Huludao, einer bezirksfreien Stadt in der nordostchinesischen Provinz Liaoning mit nur knapp 2,5 Millionen Einwohnern.
Abfahrt am Bahnhof in Beijing: Tausende machen sich auf den Weg zu ihren Familien. (Foto von Nils Bergemann)
Wir konnten allerdings nur noch Tickets erster Klasse ergattern. So kam ich in den Genuss von mehr Beinfreiheit und unentgeltlichem Tee. Vor der Abfahrt hatten wir eineinhalb Stunden in einer langen Schlange angestanden, um unseren Zug nicht zu verpassen. Die Menschenmassen waren eindrucksvoll. Als neben uns alle für einen anderen, früheren Zug eingecheckt hatten, bekamen wir grünes Licht und konnten auch durch die Kontrolle. Kontrolliert wurden nur die Ausweise, Papiertickets sind nicht mehr notwendig. In China ist tatsächlich alles digital.
Der Zug fuhr pünktlich los, was für einen an die Deutsche Bahn gewöhnten Menschen schon ein Grund für innere Freudenschreie ist. In China sind schnelle, sichere und pünktliche Züge eine Selbstverständlichkeit.
Nach dreieinhalb Stunden erreichten wir Huludao. Der Bruder wartete schon auf uns mit dem Auto – und im Haus der Eltern war dann die Familie komplett mit der Frau des Bruders, dem Baby, der Schwester und der Oma. Das Haus war rot dekoriert und der Esstisch schon reichlich gedeckt. Die Schwester, die schon sieben Stunden gekocht hatte, war noch immer in der Küche zugange. Die ältere Schwester bekam viele rote Kleidungsstücke geschenkt, da sie im Jahr des Drachens, dem neuen chinesischen Jahr, geboren ist. Die rote Kleidung zu tragen, soll Glück bringen.
Ein Großteil der Familie hatte schon Tage in der Küche verbracht, um viele Speisen vorzubereiten. Ich kann beim besten Willen nicht wiedergeben, was ich alles während meines zehntägigen Aufenthalts gegessen habe, aber ich versuche es und fange mit den Fleischsorten an: Eselfleisch, Schweinefleisch, Rindfleisch, Lammfleisch und Hühnerfleisch in verschiedenen Zubereitungsformen – geschmort, gekocht, gebraten oder gebacken, in der Suppe, in Teigtaschen und meist am Ende jeder Mahlzeit zwischen meinen Zähnen.
Festschmaus zum Frühlingsfest: Mehrmals am Tag war der Tisch reich gedeckt. (Foto von Nils Bergemann)
Die Schweinerippen mit Sauerkraut hatten es mir besonders angetan. Unter den Teigtaschen waren die Jiaozi (das chinesische Wort für Teigtaschen) mit Eselfleisch mein Favorit. Die Jiaozi stehen für Reichtum und Wohlstand. In einigen Familien werden Münzen in die Teigtaschen getan, was unangenehmer sein kann als Senf in einem Berliner während eines deutschen Neujahrsfestes.
Ich habe noch nie so viele Teigtaschen gegessen wie während des diesjährigen Frühlingsfestes. Kein Schwabe käme auf die Idee, so viele Maultaschen an so vielen Tagen hintereinander zu essen, aber die Chinesen nehmen ihre Traditionen ernst und variieren die Inhalte und die Zubereitung so gut, dass auch Teigtasche Nummer 96 noch schmeckt.
Würstchen, deftige und süße, verdrückte ich auch. Tofu gab es natürlich auch. Im Haus des Bruders, wo wir wohnten, gab es dann noch Sushi, das der Bruder gekonnt selbst zubereitete, Dampfbrötchen (Baozi) und viele weitere Leckereien. Die Devise lautete: Einfach weiter essen, auch wenn man satt ist. So viel Aufmerksamkeit wie das Essen bekam nur noch das Baby. Das Spielen mit dem Baby war eindeutig die kalorienärmere Beschäftigung.
Wenn wir nicht gerade im Haus der Eltern aßen, brachte uns der Vater auch noch viele Speisen vorbei. Fisch kam auch auf den Tisch. Fisch essen soll für Überfluss im neuen Jahr sorgen. Welche Bedeutung Garnelen haben, weiß ich nicht, aber sie schmeckten hervorragend.
Morgenmarkt in Huludao: Von lebenden Hühnern und Seidenraupenlarven bis zu „hässlichen“ Orangen, frischen Tofu und Rohmilch reicht das Angebot. (Foto von Nils Bergemann)
Vieles kauften wir auch auf dem Morgenmarkt, wo ich einen knusprigen Snack mit Eselfleisch probierte und Tonnen von Obst, Gemüse, Rohmilch und sich windenden fetten Seidenwurmlarven zum Haus der Eltern schleppte. Der Anblick der Larven war nicht unbedingt appetitanregend, aber frittiert konnte man sie essen – sie waren außen knusprig und innen extrem weich, so wie ein Schokoriegel mit Karamellfüllung, nur geschmacklich eben im Reich der Insekten verortet, wo Garnelen im Tierreich übrigens auch hingehören.
In China wird Gastfreundschaft übrigens in Kilogramm gemessen. Da ich in zehn Tagen etwa 5 kg zugenommen habe, muss ich den Gastgebern ein großes Lob aussprechen. Esstisch und Kühlschrank waren stets gut gefüllt und ich erwies mich auch als exzellenter Gast, indem ich mir nachts auf leisen Sohlen mein zweites Eis des Tages aus dem Gefrierfach holte, auch wenn ich nachmittags schon Kuchen hatte.
Chinesische Familien lassen sich das gemeinsame Frühlingsfest einiges kosten, wobei ich nicht einmal die mit 100-Yuan-Scheinen gefüllten legendären roten Umschläge – die Oma lächelte, als sie ihre öffnete – und die Hausanzüge und Hausschuhe für alle Gäste meine, sondern das Essen. Mehrere Kilogramm Fleisch und Meeresfrüchte gibt es auch nicht auf chinesischen Märkten umsonst. Und wir haben umgerechnet bestimmt allein für 200 Euro Kirschen, Erdbeeren, Mangos, Wassermelonen und andere Früchte gegessen.
Abwechslung von den Festessen: Rutschpartie auf Autoreifen. (Foto von Nils Bergemann)
Snacks sind auch ein wichtiger Bestandteil des Frühlingsfestes, da das Handydisplay in diesen Tagen Konkurrenz vom Fernseher bekommt und eine Neujahrsgala ohne Knuspergeräusche nur halb so schön ist. Das Feiertagsprogramm zieht in China, relativ betrachtet, so viele Menschen vor den Fernseher wie früher Thomas Gottschalks „Wetten, dass?“ in Deutschland – weltweit sehen rund eine Milliarde Menschen die Neujahrsgala.
Wenn es um die Auslegung des deutschen Sprichwortes „Nach dem Essen sollst Du ruhen oder tausend Schritte tun“ geht, war die Tendenz eindeutig: Essen, ruhen, essen. Dennoch machten wir einige Ausflüge: zum Morgenmarkt, zum Supermarkt, in eine Einkaufsstraße, zum Feuerwerk kaufen und an die Küste sowie in einen vereisten Vergnügungspark.
In China, zumindest auf dem Lande, wird nicht nur an einem Tag geknallt, sondern an vielen und gewaltig. Raketen, Böller und Batterien mit mehreren Schüssen sind viel billiger zu haben als in Deutschland. Das Meiste sahen wir vom Fenster aus, aber am Neujahrstag ballerten wir selbst auch, was nach Jahren der Feuerwerksabstinenz für mich sehr unterhaltsam war.
Ausflug an die Küste: Das zugefrorene Meer bot einen schönen Anblick. (Foto von Nils Bergemann)
Der Ausflug ans Meer war toll – es war ganz weit zugefroren und das Eis an vielen Stellen aufgebrochen. Ein Mann durchbrach die Stille mit seiner Drohne. An einem anderen Tag besuchten wir einen Freizeitpark mit nachgebauter Altstadt und vielen kleinen Ausstellungen zur Geschichte der Stadt. Ich aß leckeren Stinktofu und rutschte mit einem Autoreifen einen Schneehang mehrmals hinab. Der Mitarbeiter hatte Mühe mich anzuschieben, schließlich hatte ich schon einige Tage Frühlingsfest hinter mir.
Für die Rückfahrt bekamen wir keine Zugtickets mehr, aber fuhren mit einem Taxi zusammen mit zwei weiteren Fahrgästen zurück. Der Taxifahrer konnte so einiges extra verdienen. Die Fahrt dauerte etwa doppelt so lange wie mit dem Zug, ging dafür aber von Tür zu Tür. Bei einem Zwischenstopp holte sich der Fahrer eine flache chinesische Pizza (Guokui) und ich ärgerte mich im Auto, dass ich das nicht auch getan hatte.
Fürs neue chinesische Jahr habe ich ein paar wichtige gute Vorsätze: abnehmen und beim nächsten Frühlingsfest mindestens eine Teigtasche und zwei Eis weniger essen.
*Nils Bergemann ist studierter Journalist mit langer Erfahrung als Redakteur und Kommunikationsexperte bei Verlagen und anderen Unternehmen. Zuletzt arbeitete er fünf Jahre für die China Media Group. Weiterhin in Beijing lebend unterrichtet er seit 2023 Deutsch, Sprachwissenschaften und Wirtschaft an der University of International Business and Economics.