Die Sonne scheint hell und warm an diesem Sommertag und die Bäume und Sträucher stehen in voller Blüte. Die Klänge traditioneller Volkslieder wogen an unser Ohr, während wir durch pittoreske Gässchen schlendern. Als wir näherkommen, sehen wir Einheimische fröhlich das Tanzbein schwingen. Die Luft ist geschwängert vom herrlichen Duft von frisch aufgebrühtem Kaffee und gerade gebackenem Brot.
Wir befinden uns in der Liuxing Jie, der Sechs-Sterne-Straße, einem bekannten historischen Straßenviertel in der Stadt Yining, die zum autonomen Bezirk Ili der kasachischen Minderheit gehört. Der Touristenort liegt tief im Westen des Uigurischen Autonomen Gebiets Xinjiang.
Ohren- und Augenschmaus: In der Liuxing-Straße schwingen Menschen in ethnischer Tracht das Tanzbein. Lieder, Applaus und Gelächter vermengen sich in der Abendluft. (Foto: Zhao Piao)
Ost trifft West
In der Antike war Yining noch unter dem Namen Ningyuan bekannt, was so viel wie „Frieden und Ruhe in der Ferne“ bedeutet. Es war ein wichtiger Knotenpunkt an der Nordroute der Seidenstraße und damit ein kultureller Schmelztiegel, wo Ost und West aufeinandertrafen. Heute fungiert Yining, Hauptstadt des autonomen Bezirks Ili, als Brückenkopf für Chinas Öffnung nach Westen im Rahmen der Seidenstraßeninitiative. Eine Rolle, die der Stadt wie auf den Leib geschneidert scheint. Ist der Ort doch getränkt von historischer Atmosphäre und unverwechselbarem Lokalkolorit. Die Liuxing-Straße ist nicht nur ein Touristenmagnet, sondern auch ein beliebter Treffpunkt der Einheimischen.
Die Sechs-Sterne-Straße hat ihren Namen ihrer besonderen sechseckigen Struktur zu verdanken. Von einem kreisrunden Zentrum aus ergießen sich sechs Hauptstraßen strahlenförmig in die Peripherie. Im Herzen des Viertels finden sich öffentliche Einrichtungen, darunter eine Schule und zahlreiche Geschäfte. In der Peripherie wohnen Menschen aus dreizehn verschiedenen ethnischen Gruppen, darunter Uiguren, Han, Kasachen und Hui.
Historischen Aufzeichnungen zufolge wurde die Liuxing-Straße einst von einem deutschen Ingenieur entworfen. Mitte der 1930er Jahre begannen die Bauarbeiten. Es ist ein seltenes Modell westlicher Gartenstädte in China und gleichzeitig ein Paradebeispiel für gelungenen Kulturaustausch zwischen China und dem Westen.
Cooler Sommerspaß: In einer Eisdiele in der Liuxing-Straße hat die große und kleine Kundschaft die Qual der Wahl zwischen verschiedensten Toppings. (Foto: Zhao Piao)
Magischer Mix der Kulturen
Auch in einer Eisdiele des Viertels, in der wir nach etwas kühler Erfrischung suchen, herrscht Trubel. Der Laden brummt. Gerade noch hat Besitzerin Tang Ping ihrem Verkäufer einige Anweisungen auf Uigurisch zugerufen, da hat sie sich auch schon wieder umgedreht, um die Gäste in astreinem Mandarin zu begrüßen.
Wer bei selbstgemachten Eisspezialitäten nur an italienisches Gelato denkt, wird in Yili eines Besseren belehrt. Denn auch hier in der gesamten Region hat die Speiseeisherstellung lange Tradition. „Unser Unternehmen ist zwar noch jung, wurde erst 2021 gegründet, doch das überlieferte Verfahren zur Eisherstellung hat eine hundertjährige Geschichte“, erklärt uns Tang Ping. Sie ist nicht nur Besitzerin der besagten Eisdiele, sondern gleichzeitig auch Geschäftsführerin der Xinjiang Xinzan Food Co., Ltd. Es stellt sich heraus, dass die Familie von Muhemati Abdiriyim, einem Angehörigen der usbekischen Minderheit und einem der Mitgründer der Firma, seit drei Generationen mit der Eisherstellung ihr tägliches Brot verdient. Schon seit seiner Kindheit blickte Muhemati Abdiriyim Großvater und Vater gerne über die Schulter, wenn beide Milch, Eier und Zucker geduldig verrührten, um süßes Milcheis daraus zu zaubern.
Mit dem wachsenden Tourismus wächst nun auch die Fangemeinde der lokalen handgemachten Eiscreme aus Yili, was auch die Industrialisierung der Eiscremeproduktion beschleunigt hat. „Wir sind das erste Unternehmen in Yining, das traditionelle Handwerkskunst mit maschineller Produktion kombiniert“, erzählt uns Eis-Unternehmerin Tang stolz. Im Yining-Park der Wirtschaftsentwicklungszone von Khorgos direkt an der chinesisch-kasachischen Grenze produziert ihr Unternehmen die süße Spezialität nun nach einem standardisierten Hightech-Verfahren. Das Schlemmerprodukt landet so nicht nur in Mägen in Xinjiang, sondern auch in den Kühlschränken von Naschkatzen in Zhejiang, Guangdong, Tianjin und vielen anderen chinesischen Provinzen und Städten.
Der boomende Tourismus in der Region gibt aber längst nicht nur der Eisbranche Auftrieb. Menschen aller ethnischen Gruppen bekommen ein Stück vom großen Entwicklungskuchen ab. Auch wenn das Unternehmen von Tang Ping erst vor drei Jahren startete, beschäftigt es heute bereits über 20 Mitarbeiter verschiedener Ethnien.
Kunst im Alltag: Gunu Arigen demonstriert den Touristen, wie ihre farbigen Steinbilder entstehen. (Foto: Zhao Piao)
Mehr Wohlstand für die Region
In der Liuxing-Straße können Touristen nicht nur traditionelle Spezialitäten verkosten, es erwartet sie auch ein buntes Kultur- und Freizeitprogramm. Der Lebensstand der Einheimischen hat sich durch die Impulse der Reisewirtschaft erhöht. Und auch der Glücksindex steigt.
Während am Horizont die Sonne langsam verschwindet, fängt für Gunu Arigen der künstlerische Schaffensprozess gerade erst an. Vor ihrem Atelier kreiert sie ein Kunstwerk, das viele Touristen zum Anhalten und Zuschauen bewegt. Als Leinwand dienen ihr Holzbretter, als Farben Erzpulver und statt auf Pinselstriche setzt die lokale Künstlerin auf Schnitz- und Schmiertechnik für ihre Werke. Das Ergebnis dieser einzigartigen Malmethode – bezaubernde farbige Steinmalereien – kann sich sehen lassen. „Unsere heimische Landschaft und Volkskultur, aber auch Erinnerungen an alte Gebäude – all das ist für mich Quell der Inspiration bei meiner Arbeit“, sagt Gunu.
Ihr Atelier betreibt Gunu seit 2018. Mit dem Anstieg der Besucherzahlen ist ihre Kunstwerkstatt nicht nur zu einer beliebten Touristenattraktion geworden, sondern gilt auch als lokales Zentrum zur Verbreitung des immateriellen Kulturerbes. Immer mehr Kunstbegeisterte kommen hierher, um von Gunu zu lernen, darunter viele Hausfrauen und Studierende.
Suriya Abdukadir, Studentin an der Pädagogischen Universität Ili, ist eine von ihnen. Sie nutzt ihre Sommerferien, um sich von Gunu in deren Handwerkskunst einführen zu lassen. Für sie sei das nicht nur Hobby, sagt die junge Frau, sondern auch eine Chance, später etwas Geld nebenher zu verdienen.
Dank des Aufschwungs des Tourismus hat Gunu heute mehr Möglichkeiten, ihre Werke auch überregional bekannt zu machen. In vielen Provinzen und Städten hat sie bereits Ausstellungen veranstaltet, mit sehr positiver Resonanz. „Ich hoffe, dass sich noch mehr Menschen meine Werke anschauen und eine Idee von der Schönheit Xinjiangs bekommen“, sagt sie.
Das Fazit unseres Besuchs: Nicht nur die Blumen blühen in der Liuxing-Straße, sondern auch die Geschäfte. Allein zwischen Januar und Juni dieses Jahres lockte Xinjiang schon über 120 Millionen Touristen an, rund 16 Prozent mehr als im Vorjahr. Dabei wurden rund 132 Milliarden Yuan an touristischen Einnahmen in die Kassen gespült, hier lag das Plus gar bei gut 37 Prozent. Der florierende Tourismus in Xinjiang beflügelt dabei nicht nur Beschäftigung und Unternehmertum unter den Einheimischen und verschafft ihnen ein Gefühl der Teilhabe an den Entwicklungsfrüchten, er steigert auch das Glücksgefühl der Menschen aller ethnischen Gruppen, und nicht zuletzt auch den ethnischen Zusammenhalt.