Versteckt im dichten Schatten des Südcampus der Nanjing-Universität steht ein schlichtes, graues Backsteinhaus im westlichen Stil. Die Sommersonne bahnt sich mühsam ihren Weg durch die üppigen Blätter der Platanen und malt ein flirrendes Lichtspiel auf den Boden. Über die Mauern ranken mehrschichtige Jungfernreben wie ein smaragdgrüner Vorhang. Und eine sanfte Brise raunt durch die Blätter, als würden die Stimmen der Vergangenheit lebendig. Das zweistöckige Haus im deutschen Stil, von dem hier die Rede ist, war einst die Residenz von John Rabe, dem ehemaligen Generalmanager der Siemens-Niederlassung in China. Heute dient das Gemäuer als Gedenkstätte für den „guten Deutschen von Nanjing“, wie man John Rabe in China auch nennt.
Diese Oase der Ruhe mitten im Nanjinger Stadttrubel wurde während der japanischen Besetzung der Stadt 1937 zur „Arche Noah“ für zahlreiche chinesische Zivilisten. Bis heute ist in einem Winkel des Gartens der von Rabe persönlich angelegte Luftschutzbunker sichtbar. Genau hier war es auch, wo Rabe einst seine welterschütternden Tagebücher verfasste, die als bedeutendstes Dokument des Nanjing-Massakers in die Geschichte eingehen sollten. Am 13. Dezember 1937 eroberten die japanischen Truppen Nanjing. In den folgenden sechs Wochen schlachteten sie in einer der barbarischsten Episoden des Zweiten Weltkriegs mehr als 300.000 chinesische Zivilisten und entwaffnete Soldaten ab. Die extremen Gräueltaten erlangten als Nanjing-Massaker traurige Berühmtheit.
Über 80 Jahre sind seither vergangen. Dennoch zieht das Rabe-Wohnhaus bis heute Besucher aus aller Welt an. Darunter fällt besonders ein älterer Herr aus Deutschland auf – Thomas Rabe, John Rabes Enkel. Er ist Ehrenprofessor der Universität Heidelberg und Vorsitzender der von der Familie gegründeten John-Rabe-Kommunikationszentren weltweit. Seit der Eröffnung des John-Rabe-Hauses 2006 gehört Thomas Rabe zu den regelmäßigen Besuchern. Getreu dem Vermächtnis seines Großvaters wird er nicht müde, die Geschichte von dessen humanitärer Rettungsaktion ein ums andere Mal zu erzählen. Gemeinsam mit seiner Familie setzt sich der über 70-Jährige aktiv für den chinesisch-deutschen Austausch in Kultur und Medizin ein. Thomas Rabe hält damit die Erinnerung wach und lebendig.
Das John-Rabe-Haus: Oase der Ruhe im Nanjinger Stadttrubel (Foto: Interviewpartner)
Hilfe in der Not als Selbstverständlichkeit
Thomas Rabe war noch nicht geboren, als sein Großvater starb. In seiner Kindheit wusste er wenig über die Erlebnisse seiner Vorfahren in China. „Mein Vater Otto Rabe wurde in China geboren und verbrachte dort eine glückliche Kindheit und Jugend, bevor er zum Studium nach Deutschland zurückkehrte“, erzählt der Rabe-Enkel im Interview. „Als Kind hörte ich oft die Geschichten meines Vaters über das Leben in China und die dortige Kultur – aber kaum etwas über den Krieg.“ Erst zu Zeiten seines Medizinstudiums bekam Thomas Rabe schließlich Zugang zu den berühmten Tagebüchern seines Großvaters.
„Ich erinnere mich noch genau an den Moment, als ich die Tagebücher aus der Zeit des Nanjing-Massakers erstmals aufschlug.“ Wenn der heute 74-Jährige von diesen jahrzehntealten Erinnerungen erzählt, verlangsamt sich sein Sprechtempo unwillkürlich, seine Augen glänzen bewegt.
1908 hatte der junge John Rabe erstmals chinesischen Boden betreten. Er lebte in Städten wie Beijing, Tianjin und Nanjing, verliebte sich nicht nur in das Land, sondern gründete hier auch eine Familie.
„Als 1937 die japanischen Invasoren zum Sturm auf Nanjing ansetzten, rieten ihm alle zur Flucht“, erzählt der Enkel. „Doch mein Großvater blieb. Für ihn war es eine Selbstverständlichkeit, den in Not geratenen Chinesen beizustehen – schließlich hatte man ihm in China über Jahre große Gastfreundschaft entgegengebracht.“
Während der japanischen Besatzung Nanjings in den Jahren 1937 und 1938 rettete der Deutsche gemeinsam mit weiteren ausländischen Freunden rund 250.000 chinesischen Zivilisten das Leben – durch die Einrichtung einer Sicherheitszone in der Stadt, deren Verwaltungskomitee Rabe vorsaß. Über 600 Schutzsuchende fanden Unterschlupf auf seinem privaten Anwesen – in seinem Haus, dem Garten und der dahinterliegenden deutschen Schule. Ungeachtet der persönlichen Gefahr beschaffte Rabe unermüdlich Spenden, Nahrungsmittel, Medikamente und lebensnotwendige Güter für die Schutzsuchenden, was dem Deutschen den Spitznamen „lebender Buddha“ einbrachte – eine Bezeichnung voller fernöstlicher Poesie.
„Mein Großvater hielt die Grausamkeiten der japanischen Aggressoren in über 2000 Seiten Tagebucheinträgen und hundert Fotos fest.“ Thomas Rabe gesteht, dass er von der Brutalität der geschilderten Szenen noch immer zutiefst erschüttert sei. Doch in das Empfinden mischt sich auch Stolz auf den Mut des Großvaters, der sich entschied, hunderttausende Zivilisten im Krieg zu schützen.
Thomas Rabe neben einer Büste seines berühmten Großvaters (Foto: Interviewpartner)
Das Familienerbe fortführen
„Es ist meine Aufgabe, die historische Verantwortung weiterzutragen, die aus den Tagebüchern meines Großvaters erwächst“, sagt Thomas Rabe. Eine Verantwortung, die sich bis heute wie ein roter Faden durch sein Leben und Wirken zieht und die Familie Rabe eng mit China verbindet.
„Vor seinem Tod übergab mein Großvater seine Tagebücher samt allen zugehörigen historischen Dokumenten meinem Vater, der sie wiederum mir anvertraute.“ In den Augen des Enkels sind diese wertvollen Materialien für China von großer Bedeutung. 2016 überließ er die „Nanking-Tagebücher“ daher dem chinesischen Nationalarchiv, wo sie nun Teil des UNESCO-Weltkulturerbes sind und zu den umfassendsten Zeugnissen der damaligen Gräueltaten zählen.
Gemeinsam mit seiner Frau hat Thomas Rabe bis dato weltweit sechs John-Rabe-Kommunikationszentren eingerichtet: in Deutschland, Rumänien, Spanien und China. Dazu sagt er: „Ziel dieser Zentren ist es, das Leben meines Großvaters und seine humanitäre Hilfe während der japanischen Aggression und der Besetzung Nanjings zu würdigen sowie die Ideale von Frieden und Mitmenschlichkeit weiterzutragen.“
Enkel Rabe betont, dass es in der heutigen Welt wichtiger denn je sei, den Geist der Mitmenschlichkeit, wie ihn sein Großvater einst pflegte, fortzuführen. Er meint damit Zivilcourage, Nächstenliebe und Friedenswille. Diesem Erbe widmete der Hamburger auch sein Buch „Rabe und China“, das 2024 erschien und die langjährige China-Verbindung seiner Familie dokumentiert. Es enthält viele erstmals veröffentlichte Fotos. Alle Erlöse des Werkes fließen in humanitäre Projekte.
In China ist Thomas Rabe vor allem als Rabe-Enkel bekannt, in Deutschland kennt man ihn eher für seine Verdienste als erfahrener Professor für Gynäkologie und Geburtshilfe. Auch diese medizinische Expertise hat der Deutsche mit nach China gebracht.
2013 schloss er sich dem internationalen Expertenteam des Beijinger Frauen- und Geburtshilfekrankenhauses an, das zur renommierten Capital Medical University gehört, wo Rabe seine 40 Jahre medizinische Expertise mit chinesischen Kolleginnen und Kollegen teilte. Zusammen mit bekannten Ärzten wie Ruan Xiangyan förderte er die chinesisch-deutsche Zusammenarbeit in der gynäkologischen Endokrinologie und Reproduktionsmedizin. Er half dabei, wesentliche Fortschritte in Sachen klinische Praxis, Lehre, Forschung und Ausbildung in diesen Fachgebieten zu erzielen. Dazu zählten etwa die erste Transplantation von Kryo-Eierstockgewebe in China, die erste natürliche Schwangerschaft nach einer solchen Transplantation sowie die Geburt des ersten gesunden derart gezeugten Babys – drei historische Durchbrüche auf dem Gebiet der Reproduktionsmedizin. Diese Errungenschaften haben China eine internationale Spitzenposition in den Bereichen gynäkologische Endokrinologie und Fertilitätsmedizin gesichert.
Der heute über siebzigjährige Mediziner schreibt mit großer Zielstrebigkeit weiter an seiner Legende: Thomas Rabe wirkte maßgeblich an der Gründung des internationalen interdisziplinären Endometriosezentrums mit, initiierte als deutscher Vizepräsident die Chinesisch-Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, beteiligte sich an der Abfassung medizinischer Standardwerke und leitete die Entwicklung des „Virtual Academy of Medicine“-Projekts. Jedes dieser Vorhaben ist eine Fortführung des Erbes seines berühmten Großvaters.
Preisverleihung: Am 10. Juli erhielt Thomas Rabe (1.v.l) in Beijing bei den zweiten „Orchid Awards“ der CICG den Preis des Freundschaftsbotschafters. Hier ist er mit den anderen Preisträgern zu sehen. (Foto: Sekretariat der Orchid Awards)
„Für meine Familie war und ist China wie eine zweite Heimat“
„Chinesen gedenken Herrn Rabe wegen seiner großen Liebe zum Leben und seines Einsatzes für den Frieden.“ So sagte Staatspräsident Xi Jinping einst bei einem Besuch der Körber-Stiftung. Im Interview mit uns wiederholt Thomas Rabe diese Worte mit spürbarer Rührung in der Stimme. Für ihn verkörpert diese Würdigung die höchste Anerkennung der chinesischen Regierung und des chinesischen Volkes für das Wirken seines Großvaters: „Es ist uns eine Ehre, dass die Chinesen die Verdienste meines Großvaters und unserer Familie nicht vergessen haben.“
Diese historisch begründete Dankbarkeit und Anerkennung begleitet Thomas Rabe kontinuierlich: 2015 erhielt er die „Medaille zum 70. Jahrestag des Sieges im Widerstandskrieg des chinesischen Volkes gegen die japanische Aggression“, 2018 wurde ihm für sein Engagement im medizinischen Bereich der „Chinese Government Friendship Award“ verliehen, die höchste Auszeichnung für ausländische Staatsbürger in China. Und in diesem Jahr folgte bei den „Orchid Awards“ der China International Communications Group (CICG) die Verleihung des Freundschaftsbotschafterpreises. In der Begründung der Jury hieß es: „Thomas Rabe widmet sich unermüdlich der medizinischen Kooperation und dem Kulturaustausch zwischen China und Deutschland. Er setzt damit die über vier Generationen währende Verbundenheit seiner Familie zu China fort.“
In seiner Dankesrede sagte Thomas Rabe: „Im Namen der gesamten Familie Rabe möchte ich meinen herzlichsten Dank für diese hohe Auszeichnung aussprechen, die die 117-jährige Freundschaft unserer vier Generationen mit China würdigt. Für meine Familie war und ist China wie eine zweite Heimat.“ Diese tiefe Verbundenheit setzt sich nun in der jüngeren Generation fort: Sein Sohn Maximilian Rabe, der fließend Chinesisch spricht, hat bewusst die Familienmission übernommen und führt die Arbeit der John-Rabe-Kommunikationszentren fort, um das humanitäre Erbe der Familie lebendig zu halten.
2025 jährt sich der Sieg im Widerstandskrieg gegen die japanische Aggression und im antifaschistischen Weltkrieg zum 80. Mal. Für Thomas Rabe ist der Geist seines Großvaters noch immer von großer Aktualität: „Es ist wichtig, sich für andere Menschen einzusetzen. Man darf nicht wegschauen, wenn Unrecht geschieht, sondern muss versuchen, nach allen Kräften zu helfen“, beschreibt er das Credo.
Am 3. September feierte Beijing das 80. Friedensjubiläum mit einer großen Parade. Obwohl Thomas Rabe bereits mehrfach bei ähnlichen Anlässen zugegen war, freute er sich über die Einladung auch in diesem Jahr. „Es ist für meine ganze Familie natürlich eine große Ehre, bei einem so bedeutenden Anlass dabei zu sein. Wahre Freundschaft ist wie ein Zuhause in der Fremde.“