Wir sollten die Olympischen Spiele kulturell weiterentwickeln. Das Beste aus den antiken Kulturen Europas und Chinas miteinander zu verbinden, verbreitert die Basis, bekräftigt die Schönheit und vertieft den sittlichen Ernst, der in ihrem ursprünglichen Gedanken steckt. Die Jugend der Welt braucht seriöse Ideale!
Jetzt laufen die 33. Olympischen Sommerspiele in Paris. Sie werden an vielen Standorten ausgetragen, von Frankreich bis Polynesien. Eine gute Gelegenheit, sich jenseits von Kommerz und Interessen an die Bedeutung dieses Großereignisses zu erinnern. Wofür es ursprünglich stand, wie es sich veränderte und wie es zu einer tieferen Verständigung zwischen den Völkern beitragen kann. Wie können die Antiken Chinas und Griechenlands kulturell zu einer modernen Form verbunden werden?
Die olympische Idee steht für Etappen zur Moderne. Im alten Griechenland, aus dem sie ursprünglich stammt, begann die Olympiade als religiöses Fest. Es schuf eine ideelle Einheit der vielfältigen hellenischen Völker, im Raum der damaligen mittelmeerischen Welt.
Die Einführung der Olympischen Spiele der Neuzeit wurde 1894 als Wiederbegründung der antiken Festspiele beschlossen. Als ein „Treffen der Jugend der Welt“ sollte der sportliche Vergleich der Völkerverständigung dienen. Die Welt, die Völker, die Jugend – all dies war nunmehr etwas ganz Anderes. 2660 Jahre nach der ersten Olympiade, die 776 v.Chr. stattfand, gab es nun Nationen, industrielle Arbeiterschaft, städtische Metropolen, Wissenschaft und Technologie, rationale Medizin und moderne Pädagogik – die Möglichkeit, die Menschheit zu vernichten und sie gegen ihre dunklen Seiten zu wappnen. Jetzt sind noch einmal 130 Jahre vergangen. Wieder hat die Menschheit viel Neues erfahren und Altes neu zu lernen, über unser geregeltes Zusammenleben. Mit „Welt“ meinen wir das Ökosystem unseres Globus. Was Krieg und Verbrechen bedeuten können, hat das 20. Jahrhundert uns allen mit neuer Dringlichkeit vor Augen geführt. Aus Fremden Freunde zu machen, ist wichtiger denn je.
Paris 2024 gibt einmal mehr Anlass zur Wiederbegründung, Neubesinnung und Erweiterung der olympischen Grundideen. So, wie Zahl und Vielfalt der Beteiligten immer größer wachsen, so müssen auch die Qualität und das Verständnis für den humanistischen Auftrag dieses Menschheitsereignisses zunehmen. Die Sehnsucht nach einer Versöhnung der zersplitternden Welt in der Moderne, mit der Hoffnung auf Vernunft und Einheit, schöpft aus allen Quellen des Glücks. Hier bietet China neben exzellenten Sportlern und einem begeisterten Publikum auch philosophische Orientierung. Dabei spielen Symbole und Zahlenverhältnisse eine wichtige Rolle. Diese abstrakten Muster können geistige Brücken zwischen Kulturen ausdrücken, die inhaltlich ganz verschieden sind.
Die olympischen Symbole für eine Welt in Frieden verbinden allgemeine Aussagen mit individuellen Charaktereigenschaften: Fünf Ringe in fünf Farben verketten die Vielfalt der Kontinente, ohne sie zu verwischen oder aufzulösen. Die Flagge jedes Landes der Welt enthält mindestens eine dieser Farben. Hinter Rot, Blau, Grün, Gelb und Schwarz steht das Weiß als Sinnbild der reinen Idee: Im Geist des Spielens heben sich Differenzen durch den geteilten Zweck, unter allgemein gültigen Regeln gemeinsam auf. Alle folgen der gleichen Ordnung. Indem sie keinen Unterschied machen und nur eine Welt kennen, tragen sie jeweils ihr Eigenes zum Gemeinsamen bei. Man ist aufeinander angewiesen, teilt seine besonderen Fähigkeiten – so dass durch die gemeinsame Verbindung etwas Neues, Höheres erreicht werden kann. Individuen aus traditionellen Gemeinschaften verbinden sich tätig und wirken zu einer Weltgesellschaft zusammen. Einheit ermöglicht Vielfalt – und anders herum. Das galt für das antike Hellas, erwies sich im Westen als ebenso tragfähig wie trügerisch und muss immer neu gemacht werden.
In China symbolisiert die Fünf die Gesamtheit der Wandlungsphasen, die um die unbewegte Mitte des Universums kreisen, Metall (Jin金), Holz (Mu木), Wasser (Shui水), Feuer (Huo火) und Erde (Tu土). Entsprechend gibt es fünf chinesische Ideale: Reichtum, Würde, Langlebigkeit, Freude und Wohlfahrt. Es handelt sich hierbei um eine Minimalstruktur von Voraussetzungen, die sich gegenseitig für gelingendes Leben ergänzen. Keines kann entfallen. Alles wirkt zusammen, verlangt aber außerdem noch die Balance, die solches Streben in der Spur hält und laufend Verbesserung ermöglicht.
Weniger bekannt, aber nicht weniger wichtig und einflussreich, ist die „Hohe Schule“ (Daxue大学), ein kurzer Text aus der chinesischen Antike. Dieses Daxue betont nicht den Kampf oder die konkrete Art der praktischen Übungen, sondern die Qualität und den Zweck, die bei alledem im Auge behalten werden sollen. Es geht darum, wie jeder mitspielt, wie jeder sich selbst einstellt und einbringt, damit der Zweck erfüllt werden kann, der Mehrwert für die Menschheit hervorbringt.
Bei der Entwicklung eines jeden Menschen gibt es eine Kette aus mehreren Gliedern, die dauerhaft zusammenspielen und schließlich zu dem großen Ideal führen: „Durch das Erkunden der Dinge erweitert man sein Wissen. Erweitertes Wissen bringt Integrität dessen, was Sinn stiftet. Der integre Sinn bewirkt ein aufrechtes Herz. Ein aufrechtes Herz bildet meinen Leib. Als gebildeter Mensch kann ich meine eigene Familie arrangieren und darüber hinaus das Land in Ordnung halten. Sind die Länder wohl geordnet, kann es Frieden auf Erden geben.“ Man sieht also, dass in diesem Bildungsprozess der gebildete Leib im Mittelpunkt steht.
Das offizielle Motto der olympischen Bewegung lautet „schneller, höher, stärker“ – mitgedacht aber zu wenig beachtet, ist: „besser“! Denn de Coubertins Ideale spiegeln sich im olympischen Credo wider: „Das Wichtigste an den Olympischen Spielen ist nicht der Sieg, sondern die Teilnahme, wie auch das Wichtigste im Leben nicht der Sieg, sondern das Streben nach einem Ziel ist. Das Wichtigste ist nicht, erobert zu haben, sondern gut gekämpft zu haben.“
Das Weiß erinnert hintergründig daran, dass ursprünglich nackt gekämpft werden musste. Man beginnt im Zustand der eigenen ungeschützten und unverborgenen Präsenz, ohne Hilfsmittel oder Ablenkung, ganz aus sich selbst, für jeden sichtbar. So wird die Integrität des Einzelnen unterstrichen, als Wurzel des Wertes der Spiele. Lug und Trug werden im Ansatz erschwert.
Denn die Jugend ist die entscheidende Phase des Übergangs: hier muss man sich der Wurzeln des guten Lebens besonders gründlich vergewissern. Mit „Jugend“ bezeichnen wir den Weg aus der inneren Welt der Familie in die Kreise des Weltbürgers. Das ist der wichtigste Moment in der Orientierung des Einzelnen in den Horizonten globaler Ordnung. Die Jugend kann also einen besonders nachhaltigen Beitrag dazu leisten, dass die Kreise in Ordnung kommen und in guter Bewegung bleiben.
Die Flamme lebt im Spiel ihrer Kräfte. „Tradition ist nicht die Anbetung der Asche, sondern die Weitergabe des Feuers“, hat der französische Politiker Jean Jaurès 1910 gesagt, am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Schon damals musste daran erinnert werden, dass Tradition verjüngt, erneuert und in zeitgemäße Gestalt gebracht werden muss, damit die Völker zusammenleben können. Heute steht der Satz für die deutsch-französische Kulturfreundschaft, im Kern der Europäischen Vereinigung für Frieden und Wohlstand. Dieser kulturelle Keim des alten Europas kann auch über Europa und Asien hinaus wirksam werden.
Eine der jungen treibenden Kräfte für die Neubelebung des Gedankens der Vereinten Nationen ist BRICS, eine weitere Initiative, an deren Gründung China beteiligt ist. Wieder steht die Fünf für die Grundlagen der gemeinsamen Ordnung: mit den fünf namensgebenden Ländern Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika war 2010 die Basis komplett, ein vielversprechendes Symbol! Wieder steht der Respekt vor der Integrität und Eigenständigkeit aller Länder im Mittelpunkt einer multipolaren Weltordnung. Auch hier kann Zusammenarbeit den Zusammenhalt stärken. Derzeit ist fast die Hälfte der Weltbevölkerung einbezogen, mit einem besonders hohen Anteil junger Menschen.
Bis jetzt hat die Völkergemeinschaft keinen besseren Begriff für das Zusammenspielen der Jugend gefunden als die Olympiade. Vielleicht wird das so bleiben – der Geist der neuen Welt ist frei darin, diese Spiele ihrer ursprünglichen Idee gemäß neu zu denken.
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