Am 5. März ist die zweite Tagung des 14. Nationalen Volkskongresses (NVK) in der Großen Halle des Volkes in Beijing eröffnet worden. Chinas Staatspräsident Xi Jinping und weitere Spitzenpolitiker des Landes nahmen an der Eröffnungssitzung der NVK-Tagung teil.
Der Ständige Ausschuss des Nationalen Volkskongresses (NVK) hat zum Abschluss seiner letzten Sitzung beschlossen, dass der 14. Nationale Volkskongress am 5. März 2024 in Beijing seine zweite Jahrestagung eröffnet. Bei den jährlichen Vollversammlungen werden wichtige Beschlüsse gefasst, personelle Fragen geklärt, Anträge und Vorschläge geprüft und verabschiedet, darunter auch im fünfjährigen Turnus die Wahl des Staatspräsidenten und des Vizestaatspräsidenten Chinas. Der NVK der Volksrepublik China wurde am 15. September 1954 mit der Eröffnung seiner ersten Jahrestagung ins Leben gerufen. Er feiert in diesem Jahr das 70. Jubiläum seiner Gründung. Den zahlreichen Glückwünschen schließe ich mich gerne an. Ich wünsche dem Nationalen Volkskongress und seinen Delegierten viele weitere erfolgreiche Jahre und die Kraft zu guten und weitsichtigen Entscheidungen.
Ein dominierendes Thema bei der diesjährigen Tagung dürfte die Gesamtprozess-Volksdemokratie in der Volksrepublik China sein. Im Prinzip ist die Gesamtprozess-Volksdemokratie eine Kombination aus Wahldemokratie und konsultativer Demokratie, in welcher das Volk in Übereinstimmung mit dem Gesetz auf allen Ebenen seine demokratischen Rechte wahrnehmen kann. Seit vielen Jahren entwirft, gestaltet und entwickelt das Land seine ganz eigene Ausprägung einer Volksdemokratie, sammelt Erfahrungen im Aufbau einer demokratisch gestalteten Politik und integriert die so gefundenen Werte in die Gesellschaft und die Struktur des Landes. Die grundlegende und zentrale Wertstellung des Volkes bildet schon seit vielen Jahren den entscheidenden Eckpunkt für eine demokratische Verfassung des Landes mit demokratischen Wahlen, demokratischer Verwaltung und Kontrolle in allen Bereichen der heutigen Lebenswirklichkeit in China.
Die demokratische Verfassung des Chinesischen Volkskongresses manifestiert sich in besonders beeindruckender Weise in seiner eigenen Struktur – von der nationalen Ebene, den Provinzen und Städten bis hin zu den Kreisen und Kommunen. In jeder dieser Instanzen finden Wahlen statt und jede Stufe ist dadurch im Einzelnen demokratisch legitimiert.
Es ist in ganz besonderem Maße das System der Volkskongresse, die im Gesamtprozess der Volksdemokratie dem chinesischen Volk eine permanente und weitreichende Beteiligung an der politischen Entwicklung und Entscheidungsfindung gewährleistet – auf praktisch allen Ebenen.
Während parlamentarische Abgeordnete in Europa oder den USA sehr oft das Sprungbrett des Parlamentarismus für die eigene Karriere nutzen, ist es für chinesische Abgeordnete eine Ehre, im Nationalen Volkskongress in Teilzeit zu arbeiten – fernab von karrieristischem Narzissmus. Menschen aller Nationalitäten des Landes und aus allen nur denkbaren Gesellschaftsschichten sind im NVK Chinas zu finden.
Konsensfindung ist ein sehr wesentliches Element in der demokratischen Ausrichtung des Landes. Die Verwirklichung der demokratischen Grundsätze in China basiert in hohem Maße auf den Ideen des chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping, der bei einem Besuch in einem Bürgerzentrum in Shanghai am 2. November 2019 von einer „Volksdemokratie im Gesamtprozess“ gesprochen und damit zum ersten Mal den Begriff der „Volksdemokratie“ thematisiert hat, welcher dann im März 2021 gesetzlich verankert wurde. Das Konzept sieht vor, dass politische Entscheidungen seitens Partei und Regierung nur nach vorheriger politischer Konsultation getroffen werden können. Der Begriff der Volksdemokratie umfasst dabei nach Xi Jinpings Worten nicht nur vollständige Systeme und Verfahren, sondern sie gewährleistet ganz explizit die Partizipation der Menschen am gesamten Entscheidungsprozess. Dies ist seines Erachtens die „umfassendste, echteste und effektivste Form sozialistischer Demokratie.“
Während vor allem in den durch die USA dominierten Ländern häufig der Vorwurf erhoben wird, dass China kein demokratisches Land sei, ist in Wirklichkeit genau das Gegenteil festzustellen. Die Bevölkerung des Landes befindet sich in einem permanenten Prozess der Beteiligung und Entscheidungsfindung und nimmt auf diese Weise teil an der Ausrichtung und Entwicklung ihres eigenen Seins und der Entwicklung der Gesellschaft. Die Menschen formen und gestalten die Ausrichtung und die Richtlinien der Politik. In diesem Sinne ist die „Gesamtprozess-Volksdemokratie“ mit ihrer Volksnähe und Effizienz für das Volk von ganz essenzieller Bedeutung, weil sie alle Aspekte des Lebens und Denkens der Menschen in sich vereint und alle Entwicklungsbereiche erfasst.
Dass es in diesem Sinne eine wirklich umfassende Ausprägung demokratischer Wirklichkeit darstellt, lässt sich u.a. anhand einer Studie anschaulich erläutern, die kürzlich von der „Alliance of Democracies Foundation“ aus Kopenhagen durchgeführt worden ist. Ihr zufolge sind 83 Prozent der Bevölkerung in China der Meinung, dass sie in einem demokratischen Staatswesen leben. Dagegen halten nur 49 Prozent der US-Bürger ihr eigenes Land für eine echte Demokratie. In der Tat ist deutlich zu erkennen, wie das jeweilige Volk sein eigenes Land einschätzt und wie der tatsächliche Zustand der demokratischen Ausprägung eines Landes durch die eigene Bevölkerung beurteilt wird. Die Antwort auf die Frage, ob die Volksrepublik China ein demokratisches Staatswesen ist, oder nicht, ergibt sich bereits aus der eigenen Geschichte: Mit der Gründung der Volksrepublik im Jahr 1949 hat China sich rasch und umfassend von einem autokratischen Feudalismus und einem gescheiterten Versuch der Einführung eines Mehrparteiensystems hin zu einer Volksdemokratie entwickelt.
Auf der Feier anlässlich des 65. Jahrestages der Gründung der Politischen Konsultativkonferenz des Chinesischen Volkes (PKKCV) am 21. September 2014 hatte Chinas Staatspräsident Xi Jinping bereits betont, dass im Land die Angelegenheiten der Bevölkerung von der Bevölkerung erörtert werden und dass damit zugleich der größte gemeinsame Nenner des Willens und der Forderungen der gesamten Gesellschaft Ausdruck findet: „Wenn das Volk nur das Wahlrecht hat, aber kein Recht auf umfassende Partizipation, und wenn das Volk nur bei der Abstimmung aktiviert und nach der Abstimmung wieder in den Ruhemodus versetzt wird, findet Demokratie nur pro forma statt“, so Xi Jinping in seiner damaligen Rede.
Ebenso, wie die chinesische Staatsführung sich nicht in die demokratische Ausgestaltung und die demokratischen Prozesse eines anderen Landes einmischt, wird China es anderen Ländern selbstverständlich nicht gestatten, der Volksrepublik beim Aufbau des eigenen Landes Vorschriften zu machen oder sich „belehren“ zu lassen. Ein blindes „Kopieren“ anderer Demokratiesysteme und Demokratiemodelle ist deshalb in China nicht denkbar. Zugleich aber übernimmt und adaptiert man in China durchaus Elemente, die für sinnvoll, umsetzbar und hilfreich angesehen werden. Die Volksrepublik China demonstriert besonders anschaulich die unterschiedliche Herangehensweise bei der Verwirklichung demokratischer Prinzipien, indem sie unbeirrt ihren eigenen Weg einschlägt und permanent den Willen des Volkes in die Entscheidungsprozesse einbezieht.
Die Gestaltung einer Gesamtprozess-Volksdemokratie in China ist gekoppelt an Erfahrungen und Werte der tatsächlichen Situation im Land. Sie bezieht nationale Entwicklungen und Erkenntnisse mit ein und versucht, diese in Einklang zu bringen mit dem Willen des Volkes und den Gegebenheiten von Nation und Gesellschaft.
Für die Tagung im März dieses Jahres wünsche ich den Abgeordneten des NVK Weitsicht, Mut, Zuversicht und viele kluge Entscheidungen.
*Helmut Matt ist deutscher Schriftsteller und China-Wissenschaftler.