„Heute Morgen steht der Besuch eines bedürftigen Kindes auf dem Programm. Ihm werde ich einen roten Umschlag mit Neujahrsgeld als Geschenk vorbeibringen“, sagt Yang Jing* beim Blick in ihren Tagesplaner. Wir schreiben den 18. Januar. Es sind noch drei Tage bis zum chinesischen Silvesterabend. „Am 16. Januar habe ich vier Familien besucht, und am 17. Januar, lassen Sie mich kurz nachsehen, da waren es fünf.“
Yang Jing ist Sozialarbeiterin. Sie arbeitet im ostchinesischen Weifang, eine Stadt, die vielen Chinesen vor allem für ihre berühmten Flugdrachen bekannt ist. Yang betreut das Wohnviertel Jinding im Beiyuan-Straßenzug. Es gehört zum Stadtbezirk Kuiwen. Kurz vor dem chinesischen Neujahrsfest hat die junge Sozialarbeiterin alle Hände voll zu tun. Denn zum Jahresende ist es Brauch, alten Parteimitgliedern und wirtschaftlich schwachen Familien persönliche Besuche abzustatten. Mit im Gepäck hat Yang dann Lebensnotwendigkeiten wie Milch und Reis. Damit geht sie von Tür zu Tür, um den Menschen die Fürsorge und das Mitgefühl der Gemeinschaft zuteilwerden zu lassen sowie die besten Wünsche für das neue Jahr zu übermitteln.
Sucht den direkten Kontakt zu den Menschen: Yang Jing bei ihrer Besuchstour im Wohnviertel kurz vor dem Frühlingsfest. (Foto mit freundlicher Genehmigung von Yang Jing)
Yang ist seit 2020 hier im Wohnviertel tätig. Sie habe schon immer großes Interesse an der sozialen Arbeit gehabt, erzählt sie uns. Die Identität als „Community Worker“ sei für sie mittlerweile wie eine zweite Haut, und in der fühle sie sich pudelwohl. Mit Blazer und Turnschuhen wirbelt die junge Frau durch ihr Revier, ist stets fröhlich und für alle ansprechbar, und zudem alles andere als auf den Mund gefallen. Die Bewohner schätzen ihren Charme des „Mädchens von nebenan“, ihre Offenheit und Zuverlässigkeit. Yang ist eine, die die Dinge anpackt, ohne dabei ihren Sinn für Humor eingebüßt zu haben.
Für Yang Jing ist Jinding wie ein zweites Zuhause. Sie ist ständig im Viertel unterwegs, um mit Herz und Seele alle möglichen Probleme der Anwohner zu lösen, Vorträge über verschiedene Maßnahmen zu halten und verschiedenste Fragen zu beantworten. „Ich bin quasi eine 24-Stunden-Haushälterin“, sagt sie und lacht. Veraltete Leitungen, verstopfte Abwasserkanäle, Müllentsorgung, Impfungen und Probleme bei Coronatests – Yang ist Mädchen für alles und hat immer ein offenes Ohr. Ihr Mobiltelefon ist inzwischen fast ausschließlich für die Anwohner bestimmt. Sie hat mehr als 1000 WeChat-Freunde, von denen 800 aus dem Wohnviertel stammen. Der ständige Strom an Nachrichten reißt nicht ab, das ganze Jahr über. Beschweren will sich die junge Sozialarbeiterin darüber nicht. Das gehöre eben zum Job, sagt sie. Und der mache ihr viel Spaß.
„Als Sozialarbeiter sind wir den Menschen hier ganz nahe. Die Arbeit ist äußerst vielfältig. Egal, wie groß oder klein die Dinge auch sein mögen, für die Menschen sind diese Dinge keine Banalitäten, denn sie betreffen sie persönlich. Wir nehmen daher alle Anliegen sehr ernst und lösen jedes Problem. Wenn ich dann mit einem Lächeln bezahlt werde, ist das der schönste Lohn für meine Arbeit“, sagt Yang. Die Schlüssel für gute Governance an der Basis seien gute Kommunikation und die Fähigkeit, sich in Menschen hineinzuversetzen, sagt sie.
Das Viertel Jinding ist dicht besiedelt und das Durchschnittsalter liegt hoch. Das Nachbarschaftskomitee kümmert sich deshalb seit langem besonders um die ältere Generation, insbesondere Alleinstehende. Yang kennt die meisten Senioren hier gut und hat sie ins Herz geschlossen. Sie weiß, wer allein lebt und wer Grunderkrankungen hat.
Am meisten Sorgen mache sie sich um einen Senior, Herrn Xie. Der Mann sei über 80 und lebe mit seiner Frau zusammen, erzählt sie uns. Die gemeinsamen Kinder seien berufstätig fern der Heimat. Yang Jing stattet dem alten Ehepaar jeden Silvesterabend einen Besuch ab, um mit ihnen zu plaudern und ihnen bei einigen alltäglichen Handgriffen unter die Arme zu greifen. In der zweiten Jahreshälfte 2022 erlitt Herr Xie plötzlich einen Schlaganfall. Als Yang davon erfuhr, besuchte sie Herrn Xie öfter zuhause, um nach dem Rechten zu sehen. Persönlich fuhr sie das alte Ehepaar sogar zum Impftermin. „Ich bin dem Nachbarschaftskomitee sehr dankbar, dass es in jeder Hinsicht an uns gedacht hat.“ Yangs Gesicht strahlt vor Stolz, als sie uns von den Dankesworten erzählt, die sie von den beiden Senioren erhalten hat.
Seit ihrem Berufsstart ist Urlaub für Yang quasi ein Fremdwort. Als Sozialarbeiterin an der Basis gehört es zu den grundlegenden beruflichen Anforderungen an sie, jederzeit erreichbar zu sein. Yang zeigt uns ihren Arbeitsplan für Januar, der dicht gepackt ist mit allen möglichen großen und kleinen Aufgaben: Besuche bei bedürftigen Familien, Planung von Aktivitäten zum Neujahrsfest, Erstellung des Feiertagsdienstplans, Durchführung von Brandschutzkontrollen vor den Feiertagen, Organisation von Aktivitäten zum Laternenfest ... „Es ist unser Job, den Menschen zu dienen. Noch wichtiger aber ist, dass wir beim Frühlingsfest, einer Zeit der Familienzusammenführung, hier die Stellung halten und als Ansprechpartner zur Verfügung stehen“, betont sie.
Seit dem 8. Januar gilt COVID-19 in China nur noch als Infektionskrankheit der Klasse B, nicht mehr der Klasse A. Angesichts dieser neuen Phase im Kampf gegen Corona wurde die Arbeit des Nachbarschaftskomitees entsprechend angepasst. Als Sozialarbeiterin, die seit zwei Jahren an vorderster Front im Kampf gegen Corona arbeitet, räumt Yang ein, dass sie „erleichtert“ gewesen sei, als sie die Nachricht vernommen habe. Trotzdem werde sie sich als Mitarbeiterin an der Basis jetzt keine Auszeit gönnen, sondern weiterhin für die Bewohner da sein. Als Reaktion auf das veränderte Bewusstsein und die veränderten Bedürfnisse der Menschen habe das Viertel Jinding gleich ein Gesundheitspaket geschnürt und es bei erster Gelegenheit an alle älteren und bedürftigen Menschen der Gegend verteilt. Masken, Desinfektionsmittel, Vitamin C, Antigenreagenzien ... mit diesem speziellen „Geschenkpaket“ konnte der dringende Bedarf vieler Familien in der Gemeinde gedeckt werden.
Als „letzter Kilometer" der Basisgovernance, die auch die wichtigste Einheit ist, haben zahllose Mitarbeiter wie Yang die Straßen und Gassen mit ihren gewöhnlichen Aktionen und ihrem schwachen Licht erhellt. Ihre Arbeit sei zwar manchmal trivial, aber nie einfach, sagt Yang. In ihrem Herzen folge sie immer dem Motto „Hilfe zur Selbsthilfe“. Das sei für sie die grundlegende Philosophie der Sozialarbeit. Sie hoffe, dass sich durch ihre Hilfe mehr Menschen selbst helfen könnten und sich manch einer am Ende selbst in die Reihen der Freiwilligen einreihen werde.
Yang Jings Engagement jedenfalls zahlt sich längst aus. Das Lob und die große Anerkennung der Anwohner sind hierfür der beste Beweis. Gefragt nach ihren eigenen Neujahrswünschen lächelt die junge Frau schüchtern und sagt: „Ich hoffe, dass ich im Juni die Prüfung für das Sozialarbeitszertifikat mittlerer Stufe bestehen werde.“ Fest steht: Auch in Zukunft wird die Arbeit nicht einfach werden. Doch das schreckt Yang nicht. „Selbst wenn ich mich in der Vergangenheit manchmal geärgert oder die eine oder andere Träne vergossen habe, tut das meinem Enthusiasmus keinerlei Abbruch.“
*Name auf Wunsch der Interviewpartnerin geändert