Von Zheng Ruolin*
Neulich habe ich in der französischen Fernsehsendung „C dans l’air“ (vom 25. Oktober 2017) in einer politischen Diskussionsrunde einen alten Bekannten wiedergesehen, nämlich den Wirtschaftswissenschaftler Philippe Dessertine. Ich kenne ihn von meinem Arbeitsaufenthalt in Frankreich. Damals waren wir einige Male gemeinsam Gäste in politischen TV-Debatten. Einmal nahmen wir in einer Sendung eine gegenseitige Besprechung unserer Bücher vor. Er stellte mein Buch „Les Chinois sont des hommes comme les autres“ („Chinesen sind Menschen wie du und ich“) vor und ich besprach im Gegenzug sein Buch „Le gué du tigre“ („Die Tigerfurt“).
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Am 21. April 2016 erreichte der erste chinesisch-europäische Güterzug die französische Metropole Lyon. |
Der Grund, weshalb wir gemeinsam in dieser Sendung auftraten, lag darin, dass sich beide Bücher mit China beschäftigten. Sein Buch erzählte die Geschichte des Chinesen Wang Lijun, der in eine politische Affäre verwickelt wurde, und des korrupten Polizeichefs der südwestchinesischen Metropole Chongqing, der in seinem Verzweiflungskampf politisches Asyl im amerikanischen Konsulat der Stadt suchte.
Im Laufe der Buchpräsentation skandierte der Autor den Slogan: „Tout est faux, mais tout est vrai“, also „alles ist fiktiv, aber dennoch wahr“. Ich konterte mit folgendem Kommentar: „Tout est vrai, c’est faux; et tout est faux, c’est vrai“, also „es ist wahr, dass es hier um Fiktives geht, aber was als wahr behauptet wird, ist falsch“. Damit meinte ich, dass sich Dessertines Fiktion völlig von der chinesischen Realität loslöst und auch den amerikanischen Verhältnissen nicht im Entferntesten entspricht. Auf die Handlung möchte ich hier nicht im Detail eingehen. Erwähnenswert ist aber, dass, wie ich erfuhr, nachdem ich Frankreich bereits verlassen hatte, Dessertines Buch auf den Bestsellerlisten landete und später sogar als Taschenbuch herausgegeben wurde. Als Journalist, der stets versucht, der Welt ein wahres Bild von China zu vermitteln, bedauere ich dies ehrlich gesagt zutiefst.
Zurück aber zur Sendung „C dans l’air“. Diesmal sprach Dessertine in seiner Rolle als Ökonom über die chinesische Wirtschaftsfrage. In früheren Sendungen hatte er sich zu diesem Thema bereits teils in zugespitzter Weise geäußert, stets aber in einem rationalen Rahmen. Diesmal war ich angesichts seiner Aussagen perplex. Die Studiogäste sprachen über die Knappheit an Butter auf dem französischen Markt. In Frankreichs Supermärkten klaffte hier nämlich in den Kühlregalen gerade gähnende Leere, die viele französische Verbraucher in Sorge versetzte. Butter ist schließlich im Alltag aus der französischen Küche nicht wegzudenken. Dessertine brachte die steile These vor, der Grund für die „Butternot“ sei im gesteigerten Verbrauch der Chinesen zu suchen. Was für ein Unsinn!
Butter steht nun wahrhaftig nicht auf der alltäglichen Speisekarte der Chinesen und sie trifft auch nicht wirklich den Geschmack der allermeisten Menschen in China. Gerade weil die Chinesen kaum Geschmack an mit Butter zubereiteten Speisen finden, machen chinesische Touristen in Frankreich zur Essenszeit meist einen großen Bogen um französische Restaurants, um sich stattdessen in örtlichen China-Restaurants zu verköstigen. Wie also sollte es zu erklären sein, dass ausgerechnet die chinesischen Verbraucher plötzlich ihre Liebe zur Butter entdeckt haben sollten? An diesem Zusammenhang möchte ich auf einen Gesprächsbeitrag meinerseits in einem Feature des chinesischen Fernsehsenders CGTN eingehen, der vor allem an ein französischsprachiges Publikum gerichtet ist. Das Programm trug den Titel „On ne vous dit pas tout“, zu Deutsch etwa „Du erfährst nur die halbe Wahrheit“.
Die junge Redakteurin Zhao Ye hatte für diesen Beitrag eine eingehende Recherche zum Thema der „Butterkrise“ angestellt, indem sie Statistiken des chinesischen Zollamts ausgewertet hatte. Sie kam zu folgendem Schluss: Laut den relevanten Zahlen der Behörde importierte China 2015 insgesamt 54 Millionen Kilogramm Butter. Darunter stammten drei Millionen aus Frankreich. 2016 stiegen diese Einfuhren auf 63 Millionen Kilogramm an, wobei 4,2 Millionen aus Frankreich kamen, was einen Anstieg von 36 Prozent bedeutete. Laut einem Bericht der französischen Tageszeitung „Les Echos“ belief sich Frankreichs Jahresproduktion an Butter auf 450 Millionen Kilogramm! Das bedeutet, dass Chinas Import französischer Butter lediglich 0,9 Prozent der Jahresproduktion des Landes ausmachte. Es liegt also auf der Hand, dass ein Anstieg der chinesischen Importe um 36 Prozent in keiner Weise zur „Butternot“ in Frankreich geführt haben konnte.
Meine langjährige Erfahrung hat gezeigt, dass französische Medien bei ihrer chinabezogenen Berichterstattung gerne so manches Mal über das Ziel hinausschießen. Um möglichst viel Aufmerksamkeit zu erhaschen, machen sie bei Zahlen oder Ereignissen schon mal aus einer Mücke einen Elefanten. Zieht man allerdings als Wirtschaftsexperte ein Fazit, sollte man doch etwas mehr Seriosität an den Tag legen und plausible Daten heranziehen.
Die Nachwuchsredakteurin Zhao kam gerade frisch von der Universität. Als ihr die These des französischen Ökonomen, dass „der gestiegene Verbrauch an Butter in China zu Butternot in Frankreich führt“, erstmals zu Ohren kam, glaubte auch sie zunächst, dass an der These etwas dran sein könnte. Aber nach ihrer eingehender Recherche stellte sie fest, dass die Behauptung schlicht falsch war. Wie aber kann ein renommierter Wirtschaftsexperte wie Dessertine einen solch simplen Fehler machen? Die Daten und Fakten liegen doch auf der Hand.
Und des Weiteren stellt sich die Frage: Warum schenken die französischen Zuschauer dieser falschen These so leicht Glauben? Dies lässt sich meines Erachtens nur mit „Political Correctness“ erklären. Denn Fehler in der Berichterstattung über China passen in der Regel politisch einfach ins Bild, zudem viele Menschen in Frankreich solche Meldungen gerne hören wollen.
Die Butter-Geschichte ist aus meiner Sicht eher eine kleine Angelegenheit und von daher lohnt es nicht, eine politische Fehde mit dem Ökonomen auszufechten. Bemerkenswert ist allerdings, dass es eben heute die Butter ist, die thematisiert wird, während es gestern die „délocalisation“, also die Verlagerung von Unternehmensstandorten war. Und vorgestern hörte man Beschwerden über „Les Chinois à Paris“ (die Chinesen in Paris). Ich weiß nicht, was morgen oder übermorgen zur Zielscheibe der Kritik der französischen Medien werden wird.
Den Franzosen mag all dies vielleicht nicht besonders auffallen, aber wir Chinesen, insbesondere diejenigen, die in Frankreich leben, vernehmen oft, dass der Volksrepublik stets der schwarze Peter zugeschoben wird, wenn in Frankreich irgendetwas nicht rund läuft. Alle Unglücke der Grande Nation, so wird der Eindruck erweckt, gehen auf das Konto der Chinesen. Ist das nicht eine moderne Variante der in der Kolonialzeit verbreiteten Anschauung der „gelben Gefahr“ oder eine andere Form der ethnischen Diskriminierung?
Fest steht, dass Frankreich im Handel mit China eine negative Bilanz hat. China nimmt jedoch seit Jahren große Anstrengungen auf sich, um dieses Gefälle auszugleichen. Das eigentliche Problem ist, dass die französischen Verbraucher einen großen Bedarf an chinesischen Waren haben, den die chinesischen Produzenten eben gut decken können.
China versucht auf der anderen Seite schon seit langem, die Einfuhren aus Frankreich zu vergrößern. Ein Paradebeispiel ist, dass China seinen Markt für den Import von Käse aus Frankreich und anderen europäischen Ländern geöffnet hat. Frankreich verfügt seinerseits eigentlich auch über zahlreiche Wege, seine Ausfuhren nach China zu erweitern, beispielsweise durch die Aufhebung des Embargos des Waffenexports. Aber die französische Regierung lehnt es ab, Hightech-Produkte, die „auch für militärische Zwecke verwendet werden können“, nach China zu exportieren. Damit hat sie selbst die Tür für den Ausgleich der Handelsbilanz zugeschlagen.
Neulich wurde die Fusion des französischen Konzerns Alsthom mit der Siemens AG ins Gespräch gebracht, was in Frankreich wieder für großes Aufsehen sorgte. Der Grund für diesen Coup wird interessanterweise wieder in China gesucht: Die beiden europäischen Konzerne wollten, so heißt es, auf dem internationalen Markt für Hochgeschwindigkeitsbahnen in Zukunft verstärkt zusammenarbeiten, um gegen die Konkurrenz aus China gewappnet zu sein. Das erinnert mich an einen Bericht, den ich vor 20 Jahren verfasst habe.
Er trug den Titel „TGV oder ICE – Welche Technologie passt besser zu China?“. Damals wollte China die französische Hochgeschwindigkeitsbahn importieren. In meinem Artikel habe ich ein Loblied auf den TGV angestimmt. Dieser verwendet zum Beispiel das Drehgestell „Bogie“, mit dem eine Entgleisung effektiv verhindert werden kann. Selbst im Falle eines Unfalls kippen bei einer Entgleisung die Waggons nicht um.
Ich begleitete zudem den ehemaligen chinesischen Ministerpräsidenten Zhu Rongji auf einer Probefahrt von Paris nach Lyon. In meinem Artikel beschrieb ich seine Eindrücke dieser Testfahrt.
Ein großes Hindernis für das Zustandekommen dieses Geschäfts sollte jedoch das Thema Technologietransfer werden. Die französische Seite lehnte jede Form des technischen Transfers nach China kategorisch ab, obwohl sie die relevante Technologie zuvor schon nach Südkorea exportiert hatte. Zehn Jahre später gelang es China schließlich, seine eigene Hochgeschwindigkeitsbahn, die Gaotie, selbstständig zu entwickeln. Heute rasen diese Hochgeschwindigkeitszüge Marke Fuxing mit satten 350 Kilometern pro Stunde über die Schienen im ganzen Land. Die Gaotie ist mittlerweile zu einem ernst zu nehmenden Konkurrenten für den TGV avanciert.
Angenommen, Frankreich hätte damals seine Technologie nach China exportiert, dann verkehrten heute im chinesischen Eisenbahnnetz ausschließlich französische TGV-Züge und China müsste hohe Beträge für den technischen Transfer an Frankreich zahlen. Zudem hätte der TGV einen Mitbewerber weniger auf dem Markt.
Natürlich sind solche Annahmen rein hypothetisch. Wir wissen, dass die Geschichte letztlich kein „was wäre wenn“ zulässt. Dennoch: Wenn Frankreich heute ein Exportembargo für Hightech-Produkte und militärische Technologie gegen China verhängt, schließt sich das Land lediglich selbst von technischen Ausfuhren aus. Auf Chinas Entwicklung wird dies letztlich keinen Einfluss haben. Denn Chinas Industrialisierung schreitet unaufhaltsam voran. Hier gibt es kein Zurück mehr. China hat sich bereits angeschickt, von der „Weltfabrik“ zu einem innovativen Motor der Weltwirtschaft zu werden. Wer diese Entwicklungstendenz nicht zur Kenntnis nimmt und es versäumt, in den „letzten Bus“ zur Erweiterung des Handels mit China einzusteigen, dem werden letztlich große Chancen durch die Lappen gehen.
Es ist nicht abzustreiten, dass bis Ende 2016 noch 43,35 Millionen Menschen in China unterhalb der Armutsgrenze lebten. Das heißt, ihnen standen pro Tag weniger als zwei US-Dollar zur Verfügung. Die Anzahl relativ armer Menschen ist in China ebenfalls noch immer hoch, eine Tatsache, der das Land jedoch mutig ins Auge blickt.
In den vergangenen Jahren konnte China die Frage der Versorgung seiner Bürger mit ausreichend Nahrung und Kleidung gut lösen. Eine bessere, also gesündere, vielfältigere und angenehmere Lebensweise bildet sich gerade heraus. Vor diesem Hintergrund sorgte – just im Moment der „Butterkrise“ – in Frankreich eine weitere Nachricht für Schlagzeilen: „China importiert Käse aus Frankreich!“ Ja, die „Butternot“ geht nicht auf das Konto der Chinesen, aber es ist wahr, dass China wieder Käse aus Frankreich importiert.
Doch Butter und Käse sind eher kleinere Ausfuhren. Große Exportgeschäfte macht man mit Hightech-Produkten! Es gibt eine Vielzahl hochwertiger und ausgereifter Hightech-Produkte aus der französischen Luft- und Raumfahrtindustrie, den Materialwissenschaften und der Energiebranche sowie zahlreichen anderen Bereichen, die nach China exportiert werden könnten. Tatsächlich aber machen noch immer Verkehrsanlagen, elektronische Anlagen und chemische Produkte 70 Prozent der französischen Ausfuhren nach China aus.
Heute pendeln bereits Güterverkehrszüge zwischen China und Frankreich, genauer gesagt zwischen der zentralchinesischen Metropole Wuhan und der Stadt Lyon, der zweitgrößten Stadt Frankreichs. Für die 11.300 Kilometer lange Strecke benötigen die Züge gerade einmal 16 Tage. Die Verkehrsinfrastruktur steht also, sie wartet nur auf das entscheidende Kommando. Nun sind die Weisheit und Weitsicht unserer französischen Freunde gefragt. Man sollte zumindest überlegen, das Embargo versuchsweise aufzuheben, wie einst in der Ära Jacques Chirac. Gelingt es, in der Zusammenarbeit zwischen China und Frankreich ideologische Vorurteile und abgegriffene Denkschablonen über Bord zu werfen, werden sich dieser Zusammenarbeit glänzende Perspektiven eröffnen.
Die Geschichte geht manchmal unergründliche Wege. Während ich diesen Text verfasse, liegt auf meinem Schreibtisch ein Buch der chinesischen Schriftstellerin Bian Qin. Darin zeichnet die Autorin den Frankreichbesuch Li Hongzhangs im Jahr 1896 nach. Li war ein ranghoher Beamter der ausgehenden Qing-Dynastie. Die Autorin stattete allen Orten, die Li vor mehr als einhundert Jahren bereist hatte, einen erneuten Besuch ab.
Frankreich versuchte damals, genau wie Russland und Deutschland, eigene moderne Waffen an den Mann zu bringen. Der damalige französische Präsident Félix Faure lud Li sogar eigens zu einer Militärparade ein, um ihn von der Stärke der französischen Armee zu überzeugen. China nannte sich damals zwar die „himmlische Dynastie“, war in Wirklichkeit aber ein der fremden Zerstückelung ausgesetztes geschwächtes Land. Warum aber buhlte Frankreich damals so hartnäckig um die Gunst des chinesischen Politikers? Man wollte, dass er für französische Militärausrüstungen tief in die Tasche greift!
Nach der Niederlage im Krieg gegen Japan musste sich China wieder neu bewaffnen. Frankreich wollte wie Deutschland einen Blankoscheck von Li. Viele französische Zeitungen, lokale wie überregionale, darunter „Le petit journal“, „Les Gaulois“, „La Presse“ und „Le temps“, berichteten damals ausgiebig über Lis Besuch. Zudem wollte Frankreich China als Gegengewicht zu anderen Großmächten wie Großbritannien, Deutschland und Russland bei der Auseinandersetzung um die Vorherrschaft in Asien für sich gewinnen.
Betrachtet man die heutige Welt, wird schnell klar, dass sich das Blatt gewendet hat. Am Schluss des oben genannten Buches zitiert die Autorin aus einem Leitartikel vom 23. Juli 1989 aus „Les Echos“: „Die Europäer sollten darüber nachdenken, ob die zwangsweise erfolgte Öffnung Chinas durch britisches Opium im Nachhinein eine so gute Sache war. (...) Wenn uns die Chinesen eines Tages mit ihren Industrie- und Agrarprodukten überfallen, welcher Agrarminister kann uns dann noch schützen?“ Doch die Befürchtungen des Verfassers des Leitartikels sollten sich als unbegründet erweisen. Chinesen glauben nicht, dass der Mensch ein angeborenes böses Wesen hat. In China streben wir nach Harmonie in Verschiedenheit und einer Kooperation zu beidseitigem Vorteil.
China war und ist keine Bedrohung und wird es auch nicht werden. Im Gegenteil: China bedeutet Chancen, damals wie heute und auch in Zukunft.
*Der Autor war lange Jahre als Frankreich-Korrespondent für die chinesischsprachige Tageszeitung Wenhui in Paris tätig.