Inmitten von quirligem Trommel- und Gongwirbel geht ein zottelig-liebenswerter, großköpfiger Löwe auf Tuchfühlung mit dem Publikum. Im Schlepptau hat er zwölf fellige Gefährten, die ebenfalls ausgelassen mit den Zuschauern der Löwentanzparade schäkern. Dieses traditionsträchtige Treiben war jüngst in der Gemeinde Xiqiao in Foshan zu beobachten, der drittgrößten Stadt der Provinz Guangdong. Viele Schaulustige hielten das freudige Spektakel per Smartphone fest, andere streichelten den stilisierten Löwen die Mähne, was Glück bringen soll. Anlass der ausgelassenen Festtagsstimmung: Die Nanhai Lion Dance Troupe feierte ihren ersten Geburtstag.
Frischer Wind und neue Wege
Die Gemeinde Xiqiao ist weithin als Geburtsort des Drachen- und Löwentanzes bekannt. Historische Aufzeichnungen belegen, dass hier bereits während der Herrschaft des Ming-Kaisers Jiajing (1522-1566) Drachen- und Löwentanz als eine Form des Kung-Fu Gestalt annahmen. 2006 nahm die Volksrepublik die Tanzkunst in die erste Gruppe ihres nationalen immateriellen Kulturerbes auf.
Ohren- und Augenschmaus: Die Löwentanztruppe von Nanhai mischt sich während einer Parade begleitet von dröhnenden Gong- und Trommelschlägen unters Volk.
Zur Berühmtheit der kleinen Gemeinde haben auch zahlreiche Film- und Fernsehauftritte beigetragen – vom Historienfilm „Once Upon a Time in China 3“, der schon vor drei Jahrzehnten über die Leinwände flimmerte, über den Animationsstreifen „I Am What I Am“ aus dem Jahr 2021 bis hin zu einer brillanten dreiminütigen Löwentanz-Aufführung bei einer feierlichen Gala im Vorfeld des chinesischen Neujahrsfestes 2022, ausgestrahlt von Henan TV. Dabei gestaltet sich der Weg des kulturellen Tanzerbes in die Neuzeit keineswegs stolperfrei, wie Li Nianzhong, ein Erbe des Löwentanzes aus Guangdong, bestätigt.
„Im Zuge der Urbanisierung hat diese einzigartige Kunstform mit der Zeit deutlich an Attraktivität in der Bevölkerung eingebüßt“, sagt er mit Bedauern. Schlimmer war noch, dass es vielen Tanzkünstlern nicht gelang, mit der Zeit zu gehen. Es habe an frischen Ideen gemangelt, Innovationen in Sachen Inhalt und Form blieben aus, so Li. Die Folge: Es fiel der Kunstform teils schwer, junge Menschen anzuziehen.
Um auch das heutige Publikum für den traditionellen Volkstanz zu begeistern, setzte Nanhai, der Verwaltungsbezirk der Gemeinde Xiqiao, auf clevere Innovationen und landete so einen echten Coup. Das Zauberwort lautete: Tanzcontest. Der Bezirk formulierte dafür standardisierte Wettbewerbs- und Kampfrichterregeln und richtete verschiedene Tanz-Contests aus. So mauserte sich Nanhai zielsicher zum weltweiten Trendsetter in Sachen Löwentanzwettbewerbe. Seit 2001, mittlerweile über zwei Jahrzehnten also, ist Nanhai nun schon Gastgeber des nationalen Löwentanz-Contest Wong Fei-Hung Cup, ein Löwentanzmarathon, der seines gleichen sucht.
Der Liondance hat einiges zu bieten. Integriert er doch elegant verschiedenste Elemente aus Kampfkunst, Tanz und Musik, wodurch ein Gesamtmix mit einer ordentlichen Portion Theatralik und großem Unterhaltungswert entsteht. Und diesen entdecken nun auch immer mehr Zuschauer wieder für sich. Die Fangemeinde wächst also.
Parallel dazu tat sich Nanhai auch mit dem Institut für kulturelle Kreativität der Tsinghua-Universität zusammen und startete ein spezielles Programm für ein Revival der traditionellen Löwentanzkunst. In dessen Rahmen wurden aus mehr als 2700 traditionellen Löwenkostümen zwölf exemplarische Vertreter ausgewählt und zu „Mitgliedern“ der Nanhai-Löwentanztruppe ernannt. Der Clou: Die Kostüme wurden eigens für die Aufführung umgestaltet. Jeder Löwe erhielt auf diese Weise ein charakteristisches Profil, eine eigene Löwenpersönlichkeit quasi.
Am 26. Februar 2022 feierte das tierische Ensemble sein Debüt. Die Prämiere wurde zu einem großen Erfolg. Im Publikum: auch viele junge Leute, was die Veranstalter besonders freute.
Der Bezirk Nanhai hat sich in den letzten Jahren intensiv der Förderung der traditionellen Kunstform verschrieben. „Wir haben daran gearbeitet, sie von einer reinen Volksaufführung zu einem Markenzeichen unserer Stadt zu machen. Aufführungen, Wettbewerbe und Kulturevents werden dabei bewusst miteinbezogen“, sagt Liang Huiyan, Leiterin der Kulturbehörde des Bezirks Nanhai. „Wir möchten eine Brücke zwischen traditioneller Kultur und den jungen Menschen schlagen, die Löwentanzkunst nicht nur weiterführen, sondern ihr neues Leben einhauchen.“
Erfolgreiche Wiederbelebung alter Traditionen
2020 ging ein Kurzvideo über eine improvisierte Aufführung eines schlafenden Löwen viral. „Aufführungen mit schlafenden Löwen sind grundsätzlich ein alter Hut“, erzählt Huang Zhijia, Leiter der Foshan Guoding Martial Arts Dragon and Lion Group. „Doch der Clip stellte den schlummernden Löwen einfach viel lebensechter als gewöhnlich dar. Das kam bei den jungen Menschen gut an und hat ihr Interesse an der Löwentanzkunst geweckt.“ Auch Huangs Löwentanztruppe hat mittlerweile einen solchen „sleepy lion“ im Programm, und der kommt beim Publikum ebenfalls bestens an.
Alles steht im Zeichen des Löwentanzes: In der U-Bahn-Station Leigang im Bezirk Nanhai gibt es Löwentanz-Elemente, soweit das Auge reicht.
Der Zufallserfolg veranlasste Huangs Team dazu, ebenfalls ein Kurzvideo zu drehen, in dem der Schlummerlöwe Pizai auf einer Brücke auf seine Freundin wartet. „Diese kreative Idee haben junge Leute aus unserem Team ersonnen“, sagt Huang stolz. Seine Truppe begeistert das Publikum seit ihrer Gründung nicht nur mit wunderbaren Darbietungen, sondern vermittelt ihren Darstellern auch fortwährend neue Konzepte. „Wir sollten von der Perspektive junger Menschen ausgehen, ihre Sprache sprechen und an ihren Alltag anknüpfen. Nur wenn wir den Nerv der Zeit treffen, haben wir eine Chance, mehr Aufmerksamkeit auf unser traditionelles Genre zu lenken“, ist Huang überzeugt.
Der Animationsstreifen „I Am What I Am“ flimmerte Ende 2021 über die Kinoleinwände des Landes. Er war ein Kassenschlager und stellte einen neuen Einspielrekord unter den im Inland produzierten Zeichentrickfilmen auf, die während der Hochsaison des chinesischen Neujahrsfestes in die Kinos kamen. Der Film präsentiert die Kunst des Löwentanzes im modernen Trickfilmgewand. Das Geheimnis hinter dem Erfolg waren nicht nur die lebendigen Charaktere. Vielmehr berührt die Zuschauer auch, dass sich die traditionelle Kunstform nicht unterkriegen lässt.
Ein Highlight ist vor allem der Schluss des filmischen Werks. Im großen Finale wird eine ganze Reihe schwieriger Aktionen, wie sie etwa bei realen Aufführungen in Xiqiao zu sehen sind, mit moderner Technik im Animationsformat aufbereitet, mit verblüffender Liebe zum Detail. „Die Schauspieler des Löwenkopfes und des Löwenschwanzes sowie auch die Trommler im Film sind angelehnt an echte Mitglieder unserer Truppe“, sagt Li Nianzhong. Man habe den Machern des Streifens auch bei der Choreographie und der Verwendung von Requisiten beratend zur Seite gestanden, verrät er.
In Nanhai fand zudem kürzlich ein Kulturfestival statt, bei dem die Menschen den Charme des Löwentanzes erleben konnten. Die 13-wöchige Veranstaltung brachte mehr als 2000 junge Menschen zusammen, die ihre Ideen zur Weiterentwicklung des Löwentanzes beisteuerten. Das Konzept ging auf: mehr als 200.000 Besucher strömten zu dem Event.
Darüber hinaus arbeitet Nanhai neuerdings auch mit Herstellern von Handyspielen und chinesischen Modemarken zusammen, um Spielelemente, Kleidung, Musik und Tanzchoreographien zu vermarkten. Den Nutzern gefällt das und der Erfolg gibt den Machern Recht. Von kreativen Kulturprodukten bis hin zu Performances, Animationen und avantgardistischen Technologien – der altehrwürdige Löwentanz aus Guangdong mischt schon seit einigen Jahren erfolgreich auf der neuen Bühne des China-Chic (genannt „guochao“) mit, der alte Kulturtrends aus China neu entdeckt, innoviert und vermarktet.
Zukunftsmusik
Untermalt von rhythmischem Trommelwirbel verwandeln sich die Kinder des Zentralkindergartens Pingzhou im Straßenviertel Guicheng in niedliche „Löwenbabys“. Ah Ping, Mitglied der Nanhai Lion Dance Troupe, unterrichtet den hiesigen Nachwuchs gezielt im Löwentanz.
Yu Weiguo, Leiter der Kampfkunst-Drachen- und Löwen-Vereinigung des Straßenviertels, war einst der erste, der Lehrerinnen des Kindergartens Löwentanz beibrachte. Bei der Weitergabe der Kunstform stellte er jedoch immer wieder althergebrachte Vorstellungen in Frage. So war der Löwentanz zum Beispiel traditionell eine Männerdomäne. „Ich glaube aber, dass die Entwicklung einer so hervorragenden traditionellen Kunstform sich nicht nur auf ein Geschlecht verlassen kann. Wir sollten auch Frauen miteinbeziehen“, ist Yu überzeugt.
Löwennachwuchs: Kinder führen einen Löwentanz auf, der Streetdance-Elemente und Popmusik mit der traditionellen Kunstform verbindet. Über zu wenig Zulauf kann sich die Truppe offenkundig nicht beklagen.
Mit dieser Idee im Gepäck reiste er 2005 durchs ganze Land, rekrutierte eine Gruppe von Mädchen mit grundlegenden Kampfsportkenntnissen und gründete so ein Löwentanznachwuchsteam für Frauen. Bei vielen Weltklassewettbewerben heimste die Gruppe Preise ein und gewann mehrere Goldmedaillen, beispielweise bei der Löwentanz-Weltmeisterschaft. Seitdem interessieren sich immer mehr Frauen für diesen Tanzsport.
Eines Tages kam Yu auf die Idee, Kindergartenkindern den Tanz beizubringen. Zwar integriert Nanhai den Tanz schon seit den 1980er Jahren erfolgreich in das örtliche Bildungswesen und der Bezirk hat mittlerweile mehr als 800 Löwentanzschüler in 65 Grund- und weiterführenden Schulen. Doch in den Kindergärten Löwentanz unterrichten? Das war ein Novum.
„Es ist natürlich eine Herausforderung, Kindergartenkindern komplizierte Tanzbewegungen beizubringen. Doch wir beginnen stets mit einfachen Bewegungen wie dem Nachahmen der charakteristischen Grundschritte und der Etikette bei der Aufführung. Auf diese Weise gelingt es, die Kleinen behutsam an die Sache heranzuführen und ihr Interesse zu wecken“, sagt Yu. Sein Unterfangen begann im Jahr 2021 mit der Ausbildung der ersten Gruppe von Lehrern im Zentralkindergarten Pingzhou.
Schon bald schlossen sich Lehrerinnen und Lehrer aus mehr als 20 Kindergärten seinem Projekt an. Je nach den Voraussetzungen in ihrer jeweiligen Einrichtung wollen sie die Kunst neu erschaffen und auf breiterer Ebene fördern.
„Jetzt beherrschen viele Kinder im Alter von drei oder vier Jahren bereits einfache Tanzschritte zu den Trommelschlägen. Die Großeltern trommeln, die Kinder tanzen, kurzum: die ganze Familie hat jede Menge Spaß, was natürlich ein günstiges Umfeld für die Förderung der Löwentanzkunst in der Familie schafft“, freut sich Yu. Mittlerweile wird er auch häufig an Schulen in Shanghai und in anderen Orten, etwa in der Provinz Zhejiang, eingeladen, um dort Vorträge zu halten und an Veranstaltungen zur Förderung der Löwentanzkunst teilzunehmen.
Art Field Nanhai Guangdong, ein internationales Kulturfestival der Spitzenklasse, empfing im November 2022 einen jungen Gast aus Shanghai, der die Zuschauer begeisterte. Nachdem er im Internet einen Kurzclip mit einer Löwentanzübung gesehen hatte, war er fasziniert und begann, sich selbst das Tanzen beizubringen. Anschließend brachte er es allen anderen Kindern in seinem Kindergarten bei. Um ihm die Kunst des Löwentanzes näher zu bringen, brachte seine Mutter ihn extra nach Nanhai.
„Das Löwentanztraining ist total mitreißend. Die Kombination aus traditionellen Klängen und moderner Popmusik gepaart mit Tanzelementen kommt bei den Kleinen erwartungsgemäß gut an“, sagt Liang Huiyan.
Mittlerweile seien die Übungen sogar Teil der regulären Pausengymnastik aller Grund- und Sekundarschulen in Xiqiao, sagt sie. In einigen Kindergärten in anderen Provinzen seien die Tanzelemente sogar zu einem speziellen Sportprogramm geworden. „Pädagogisch gesehen haben wir die Aufgabe, die traditionelle Kultur zu bewahren und den China-Chic zu fördern. Die Zukunft des Löwentanzes liegt meines Erachtens ganz klar in den Schulen“, so ihr Fazit.