Herman Van Rompuy, ehemaliger belgischer Premierminister und EU-Ratspräsident a.D.
Trotz vieler Unterschiede zwischen den Zivilisationen bestehen doch auch deutliche Parallelen. „Und es ist ermutigend, dass wir diese Ähnlichkeiten immer wieder entdecken können.“ Das sagt Herman Van Rompuy, ehemaliger belgischer Premierminister und einstiger Präsident des Europäischen Rates, im Interview mit der Beijing Review in der Stadt Guilin.
„Wir sprechen immer von Ost und West, als ob wir völlig unterschiedliche Kulturen hätten. Dabei ist das gar nicht der Fall. Unsere Herangehensweisen mögen sich vielleicht unterscheiden, aber die Werte dahinter sind die gleichen. Es sind universelle menschliche Werte wie Zusammenhalt, Wohltätigkeit, Mitgefühl und Humanität“, so der Belgier.
Im Hanfu-Gewand: Dieses Mädchen ließ sich auf dem Comicfestival in Brüssel am 8. September 2023 im chinesischen Pavillon in traditionellen Trachten der Han-Chinesen ablichten. (Foto: Xinhua)
Nicht nur Unterschiede, sondern auch Parallelen
Wir alle seien letztlich einfache Leute, sehnten uns nach einem guten Leben, und stabilen sozialen Beziehungen, etwa zu unseren Eltern und Partnern, so Van Rompuy. „Was wir wollen, sind zum Beispiel ein guter Job und Gesundheit.“ Das sei allen Menschen auf der Welt gemein.
„Ich habe viele Orte besucht und überall die gleiche Sehnsucht gesehen: Alle sind auf der Suche nach dem Lebenssinn, fragen sich, was wir für andere tun können“, so der ehemalige Spitzenpolitiker. „Gemeinschaftsorientierung statt Selbstzentriertheit – das bringt uns zusammen.“
Der antike chinesische Philosoph Konfuzius (ca. 6. Jh. v. Chr.) habe einst gesagt: „Alle Menschen innerhalb der vier Meere unter dem Himmel sind Brüder“. Ganz ähnliche Worte fänden sich auch in der europäischen Hymne „Ode an die Freude“. In dem gleichnamigen Gedicht des deutschen Dramatikers Friedrich Schiller aus dem 18. Jahrhundert, auf dem die Hymne basiere, gäbe es die Zeile „Alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Flügel weilt“. Van Rompuy sagt: „Wir singen da letztlich genau das, was auch Konfuzius gesagt hat – lediglich in anderer Tradition.“
Das Prinzip des Strebens nach Harmonie in der Verschiedenheit aus der chinesischen Philosophie sei nicht nur für China wichtig, sondern auch für die Menschen in Europa von Bedeutung. „Harmonie bedeutet nicht, dass alle gleich sein müssen. Entscheidend ist, einander zuzuhören, einander zu verstehen und letztlich Wege zu finden, miteinander zu arbeiten und auszukommen.“
Es sei für ihn ermutigend, immer wieder Gemeinsamkeiten zwischen dem westlichen und östlichen Kulturraum zu entdecken, sagt der Belgier. Trotz vieler Unterschiede bestünden eben auch viele Parallelen. „Es gibt Divergenzen, aber auch viele Konvergenzen.“
Ein anderer alter chinesischer Philosoph, Menzius (ca. 4. Jh. v. Chr.), habe fest an das angeborene Gute im Menschen geglaubt. „Wir leben heute in einer Zeit zunehmender Polarisierung“, sagt Van Rompuy in diesem Zusammenhang. Feindseligkeit und Extremismus seien auf dem Vormarsch. „In einer Zeit des zunehmenden Misstrauens zwischen Menschen, Ländern, Kulturen können die Gedanken des Menzius für frischen Wind sorgen. Er erinnert uns daran, dass der Mensch von Natur aus gut ist und wir Vertrauen in unsere Mitmenschen haben sollten.“ Auch in der europäischen Denktradition gebe es Philosophen mit einem ähnlichen Ansatz, so Van Rompuy, die einen großen Einfluss auf die westliche Zivilisation ausgeübt hätten.
Das Problem sei aber, diese guten antiken Ideen in die Praxis umzusetzen. Die idealistischen Konzepte der antiken Philosophen würden nämlich oft an der Realität scheitern, so der erfahrene Politiker. „Aber ich glaube, dass viele Menschen so denken wie ich: Ausgehend von der Tatsache, dass die meisten Menschen nur das Beste für ihre Kinder, ihre Familien und ihr Land wollen, ist es nötiger denn je, diese positive Energie in echtes Handeln zu überführen. Vielleicht ist das die Antwort auf das Misstrauen, das wir heute oft erleben.“
Zerbrechlich wie Vertrauen: Im Februar wurden im China Cultural Center in Brüssel filigrane chinesische Porzellanwaren ausgestellt. (Foto: Xinhua)
Kommunikation als Schlüssel
Wegen der Coronapandemie habe man viele Chancen zum Austausch etwa in Tourismus und Sport verpasst, gibt der passionierte Kulturbotschafter zu bedenken. Es sei also höchste Zeit, dies nachzuholen. Aber können wir tatsächlich alle Probleme lösen, wenn wir uns treffen? „Natürlich nicht“, sagt Van Rompuy. „Aber der persönliche Austausch trägt definitiv zur Schaffung eines anderen Klimas zwischen unterschiedlichen Kulturen bei“, sagt er.
Verständnis falle eben leichter, wenn man sich von Angesicht zu Angesicht austausche. „Dann erkennt man, dass man sich in vielerlei Hinsicht ähnelt. Wir teilen letztlich dieselben Werte, dieselben Ambitionen, ja sogar dieselben Ängste.“ Der direkte menschliche Kontakt trage viel zu dieser inneren Entdeckungsreise bei.
Seit 20 oder 30 Jahren fördere Europa deshalb Programme, die es europäischen Studierenden ermöglichten, ein halbes Jahr im Ausland zu studieren. Mittlerweile hätten schon fast zehn Millionen Studierende an dieser Initiative teilgenommen. „Mit 16 hatte auch ich die Gelegenheit, im Rahmen eines Schüleraustausches eine Reise nach Norditalien und in die Niederlande zu machen. Diese Erfahrungen haben mich nachhaltig und tiefgreifend geprägt“, erinnert sich der Ex-Premier zurück.
Was den Austausch mit China beträfe, so seien ebenfalls viele Entwicklungen in Gange. „An meiner Alma Mater, der Katholischen Universität Leuven, beispielsweise gibt es Tausende chinesische Studierende. Diese jungen Menschen tragen das Potenzial in sich, Veränderungen anzustoßen. Nach ihrem Abschluss werden sie mit einem tieferen Verständnis von Europa sowie der Welt nach Hause zurückkehren“, so der Belgier.
Die Vermeidung von Kriegen sei ebenfalls von größter Bedeutung. Die Europäische Union, eine Gemeinschaft von 27 Ländern mit fünf Beitrittskandidaten, sei nach zwei schrecklichen Weltkriegen gegründet worden. „Sie ist auf den Gräbern von zehn Millionen Menschen als Friedensprojekt entstanden“, betont Van Rompuy.
Krieg sei keine Notwendigkeit und nicht unumgänglich. „Wenn jeder das Völkerrecht und die Unabhängigkeit anderer Länder respektiert, dann gibt es keinen Krieg. Die internationale Gemeinschaft braucht die starke Überzeugung, vor allem auf Führungsebene, dass wir Frieden brauchen, echten Frieden“, mahnt der ehemalige Premier.
„Wir können die Menschen auch durch alle möglichen Veranstaltungen zusammenbringen, zum Beispiel durch Musik, Sport und Tourismus, oder durch Mittel wie das Internet, Flugzeuge oder Züge. Wir haben eine Reihe von Instrumenten, um Menschen auf digitale und physische Weise zusammenzubringen“, erklärt Van Rompuy. Das gelte nicht nur für die Bildung, sondern auch für Kunst und Kultur.
Früchte derartiger Anstrengungen zum Kulturaustausch zeigten sich auch in Guilin, wo wir den Ex-Premier getroffen haben. „Heute versammelt sich Kunst aus aller Welt hier im Yuzi-Paradies in Guilin“, so der Belgier. „Viele internationale Künstler arbeiten hier an ihren Skulpturen. Das zeigt, dass wir uns auf der Suche nach dem Guten, nach dem Wahren finden und begegnen können. Hier bringt die internationale Gemeinschaft letztlich die gleiche Sehnsucht zum Ausdruck.“
Es sei für ihn immer wieder ermutigend zu sehen, dass Menschen unterschiedlicher Herkunft, Kulturen und Länder das Gleiche wollen, das Gleiche tun und zusammenarbeiten, sagt Van Rompuy zum Abschluss.
Dieser Artikel ist eine Übersetzung aus dem englischen „Sculpting similarities“ von Beijing Review.