„Falten oder aufhängen? Wie lässt sich noch mehr Platz im Kleiderschrank schaffen?“, fragt Li Jing in die Runde, während sie verschiedene Kleiderbügel zeigt. „Ein praktischer Kniff ist es, den Schrank in einen Bereich für lange und einen für kurze Kleidungsstücke aufzuteilen und dann die Kleidung dort aufzuhängen“, erklärt sie den zwanzig konzentrierten jungen Zuhörern in ihrer Abendklasse.
Ihre „Schülerinnen und Schüler“ sind allesamt Berufstätige aus Beijing. Als professionelle Aufräumberaterin und Gründerin der Sheyu Tidying Academy wurde Li von der Qinghe-Abendschule eingeladen, Vorträge zu halten. In ihren Sessions bringt die energiegeladene Ordnungsliebhaberin ihrer Zuhörerschaft bei, wie man Kleiderschränke ordentlich hält und alte Klamotten ausmistet. Ihre Kurse an der Abendschule begannen im ersten Semester dieses Jahres.
Die Qinghe-Abendschule ist ein Gemeinschaftsprojekt des lokalen Kommunistischen Jugendverbandes und eines Jugendclubs des örtlichen Straßenkomitees. Sie bietet ein buntes Bündel an Kursen an, darunter Kunsthandwerk- und Make-up-Kurse, Fitness und chinesische Kalligraphie, aber auch Spezialunterricht wie Meditationstherapie oder eben Lis Crashkurs für Platz im Kleiderschrank. Alle Angebote werden von erfahrenen Dozentinnen und Dozenten geleitet. Und die Preise sind für die Hauptstadt günstig. Nur zwischen 170 und 600 Yuan sind für zehn Sitzungen zu berappen. Entsprechend groß ist das Interesse.
Junge Menschen lernen Skateboardfahren in einer Abendschule in Shenyang am 5. September 2024.
Wie chaotisch bist du?
Die einfachste Methode für das beste Ergebnis nutzen. Das sei die Philosophie beim Aufräumen und Verstauen von Kleidung, verrät Aufräum-Profi Li. Ihr Kurs für Lebenskunst trägt den symphytischen Titel „Nie wieder Chaos – Ordnungstricks“. Dabei geht es nicht nur um mausgraue Ordnungstheorie. Nein, es wird auch gleich praktisch angepackt und eifrig ausprobiert.
Li erklärt ihren Kursteilnehmern, dass Kleiderschränke oft der „am meisten vernachlässigte Bereich“ in jedem Haushalt seien. Durch die richtige Auswahl von Form, Position und Aufteilung des eigenen Kleiderschranks könne jedoch jeder einen schönen und ganz individuellen Schrank für sich schaffen, sagt sie. „Hier hilft zum Beispiel die Vier-Quadranten-Kategorisierung, bei der alle Kleidungsstücke in vier Kategorien eingeteilt werden: häufig benutzte, selten benutzte, besonders beliebte und eher ungeliebte Dinge. Dann wird alles gleich viel klarer“, sagt die Ordnungsmeisterin und lacht charmant.
Anschließend ermutigt sie die Teilnehmenden, gleich selbst loszulegen und die Kleidungsstücke und Accessoires auf Kärtchen, die sie mitgebracht hat, nach Jahreszeit, Stil, Situation und Farbe zu ordnen. „Der Kurs ist klasse! Schon nach wenigen Sitzungen bekommt man ein Gefühl dafür, wie sich Kleidung besser organisieren und aufbewahren lässt. Das spart mir Zeit für die Dinge, die mir wirklich Spaß machen“, schwärmt Wang Yan, eine Teilnehmerin der Abendklasse.
Ihr Kleiderschrank zu Hause sei einfach „unerträglich“, sagt Wang, da alles ohne Konzept und System hineingestopft sei. „Der heutige Kurs war daher enorm hilfreich für mich. Jetzt habe ich endlich ein System, mit dem ich meinen Kleiderschrank – ja sogar mein Leben – in Ordnung bringen kann“, sagt die junge Frau. Lis Kurs scheint also einen Nerv zu treffen. Selbst am Ende des Unterrichts, um 21 Uhr, macht sich noch keine Müdigkeit bei den Anwesenden breit. Viele Teilnehmende löchern die Dozentin mit weiteren Fragen.
Lernen ohne Grenzen
Erschwingliche Preise, flexible Kurszeiten und eine reiche Angebotspalette – dieser Mix macht die Abendschulen bei jungen chinesischen Großstädtern, die sich nach der Arbeit weiterbilden möchten, immer beliebter. Der Schlüssel zum Erfolg ist die Idee des lebenslangen Lernens und die Erweiterung der Grenzen des traditionellen Bildungssystems. Hier gibt es weder Alters- noch Berufsgrenzen. Alles was zählt, ist eine ordentliche Portion Neugier und das Streben nach Selbstverbesserung.
In Beijing tummeln sich inzwischen zahlreiche solcher Abendschulen und bieten ein breites Kursangebot für junge Menschen an. Weiterbildung nach Feierabend ist damit zu einem neuen Trend gereift. Und aufgrund der attraktiven Preise sind die begehrten Plätze meist schnell ausgebucht.
Dabei ist die Vermittlung lebenspraktischer Fähigkeiten nur ein Grund, der die jungen Teilnehmerinnen und Teilnehmer anzieht. Die Kurse helfen nämlich auch dabei, mit neuen Leuten in Kontakt zu kommen. Manche von ihnen teilen ihre Erfahrungen dann anschließend auf Social-Media-Plattformen wie Xiaohongshu, was den Kursen noch mehr Zulauf bringt. „Früher hing ich oft bis spät in die Nacht am Handy. Das hat mich innerlich nur ausgelaugt und meiner Gesundheit geschadet“, schreibt ein Teilnehmer, der derzeit einen Abendkurs zum Betrieb von Social-Media-Kanälen besucht. „Die Abendschule bietet mir nun eine neue soziale Umgebung, in der ich Gleichgesinnte treffe“, so sein Fazit.
Auch auf andere chinesische Städte ist der Trend längst übergeschwappt. In Shanghai finden einige der Abendkurse dieses Jahr im Shanghai Mass Art Museum statt. Das Angebot dort deckt 36 Branchen ab. Insgesamt können Interessenten aus einer Fülle von sage und schreibe 1000 Kursen wählen, die Platz für knapp 25.000 Teilnehmende bieten. Ein Xiaohongshu-User berichtet begeistert: „Selbst meine Mutter und ihre Freundinnen haben sich angemeldet und in den Kursen jede Menge gelernt. Früher wusste meine Mutter nicht, wie man Brot oder Kuchen backt. Jetzt ist sie eine begeisterte Hobbybäckerin. Der Besuch in den Abendschulen in Shanghai lohnt sich wirklich, man nimmt viel mit!“
In Chengdu bieten die Abendschulen noch trendigere Kurse an, darunter Boxen, Pop-Gesang, DJing und Rappen. Dank dieses hippen Kursmixes war die „Chengdu All-age School“ schon bei ihrer Eröffnung ein voller Erfolg. Die Einrichtung bietet 20 Fächer an und zählt mittlerweile fast 350 Teilnehmende im Alter von 18 bis 55 Jahren, was sie zur größten Abendschule Chengdus macht.
Mehr als nur ein Hobby
Im südwestchinesischen Chongqing bietet eine Feierabendschule sogar Kurse zu den Themen Unternehmertum und Beschäftigung an. Sie liegt in Min’an Huafu, mit rund 19.000 Haushalten eines der größten staatlich subventionierten Wohngebiete mit niedrigen Mieten. Bekannt ist es für seinen hohen Anteil an Wanderarbeitern, Menschen mit geringer Schulbildung, einkommensschwache Familien und Leute mit Schwierigkeiten bei der Arbeitssuche, etwa Menschen mit Behinderung.
Diese Abendschule wurde 2021 mit Unterstützung des Gewerkschaftsbundes gegründet. Sie bietet seither Unterricht zur Berufsbildung und Existenzgründung an. Die 14 angebotenen Kurse umfassen Berufsfelder wie Medien, Kosmetik und Internetmarketing, aber auch einen Kurs, der fit für den Arbeitsmarkt machen soll. Rechtsanwälte klären die Teilnehmenden als Gastdozenten über relevante Gesetze auf, was die Menschen in die Lage versetzen soll, die Gesetze besser zu verstehen, einzuhalten und für sich zu nutzen, um ihre legitimen Interessen zu schützen.
Doch nicht nur in Großstädten, sondern auch in kleinen Landkreisen entstehen immer mehr Abendschulen. Die sozialverträglichen Bürgerschulen in ganz China verdanken ihren Erfolg unter anderem der Unterstützung und den Bemühungen der Regierungen auf allen Ebenen. Die langfristige Herausforderung wird nun darin bestehen, möglichst viele Ressourcen zu bündeln und den Bedürfnissen aller Altersgruppen gerecht zu werden.