Vor einem Jahr hat Chinas Staatspräsident Xi Jinping auf der Eröffnungszeremonie eines hochrangigen Treffens der KP Chinas im Dialog mit politischen Parteien der Welt die Globale Zivilisationsinitiative (GCI) vorgeschlagen. Zusammen mit der Globalen Entwicklungsinitiative (GDI) und der Globalen Sicherheitsinitiative (GSI) soll die GCI dazu beitragen, Missverständnisse zu vermeiden und strategische Planungen einfacher zu treffen. Europa sollte nicht mehr auf das eigene Lesen dieses politischen Plans verzichten, sondern ihn erst einmal als Ausdruck ernstgemeinter Analyse in Betracht ziehen. So finden sich wohl einige Ansätze für gemeinsame Interessen.
Eine Drachentanzgruppe tritt am 23. Februar in der historischen Gemeinde Qiantong im Kreis Ninghai in der Provinz Zhejiang auf. Die Feier zum Laternenfest in der Gemeinde kann auf eine Geschichte von mehr als 500 Jahren zurückgeführt werden. (Foto von Wen Xinyang/Xinhua)
Am 15. März 2023, zehn Jahre nach dem Beginn der Belt & Road-Initiative (BRI), hat China seine neue „Globale Zivilisationsinitiative“ (GCI) bekannt gemacht. Die 2013 ins Leben gerufene BRI begann als großes Infrastruktur- und Investitionsprojekt, das China über Verkehrsnetzwerke und andere Infrastrukturentwicklungen mit Ländern vor allem in Asien, Europa und Afrika verbinden sollte. Die BRI wurde zum Impulsgeber für globalen Handel und wirtschaftliche Entwicklung, lernte aus Erfahrung und verfeinerte sein Instrumentarium. Fünf Grundsätze heben jetzt die GCI von konventionellen Modellen der internationalen Beziehungen ab:
1. Gegenseitiger Respekt als verbindliche Grundlage: Die Initiative lehnt die Vorstellung von einer einzigen, alle anderen übertrumpfenden Zivilisation oder Kultur ab und fördert die Idee einer Welt, in der harmonische Koexistenz aus gegenseitigem Respekt möglich ist.
2. Kultureller Austausch: Die GCI fördert den kulturellen Austausch und das gegenseitige Lernen zwischen den verschiedenen Zivilisationen. Sie fördert den Dialog der Kulturen, zur Bereicherung aller beteiligten Zivilisationen.
3. Gemeinsame Entwicklung: Die Initiative zielt auf die gemeinsame Entwicklung und den gemeinsamen Wohlstand verschiedener Länder und Zivilisationen ab. Anstelle eines Nullsummenspiels tritt das Versprechen von Mehrwert für alle.
4. Nichteinmischung: Die Initiative lehnt die Anwendung von Gewalt und die Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Länder ab. Sie bekräftigt den Grundsatz der Souveränität und der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Nationen.
5. Multilateralismus: Die GCI unterstreicht die Bedeutung des Multilateralismus und die Rolle internationaler Organisationen bei der Zusammenarbeit und Koordination zwischen verschiedenen Ländern.
Die Initiative ist besonders beachtlich, weil sie den parallel vorgestellten Projekten ein geistiges Band geben will. Mit der GCI erhält die Globale Entwicklungsinitiative (GDI) und die Globale Sicherheitsinitiative (GSI) eine besondere Qualität. Diese Dreiheit macht Chinas Außenpolitik transparent und bietet für alle Seiten Orientierung. Dadurch werden Missverständnisse vermieden und strategische Planungen einfacher.
Trotz der offiziellen, dem Englischen entnommenen Übersetzung, handelt es sich hier offensichtlich nicht nur um ein Bündel technischer und technologischer Maßnahmen, die mit dem engeren Begriff „Zivilisation“ zu beschreiben sind. Eigentlich geht es weiter, nämlich um ein Kulturprojekt, im Sinne der Kultivierung der Menschheit, als Aufgabe nach Innen und Vorsatz nach Außen gewendet. Im Hintergrund bestätigt China damit auch noch einmal die Zurückweisung des Dogmas eines zwangsläufig zerstörerisch verlaufenden „Zusammenpralls der Kulturen“, das auf den amerikanischen Politologen Samuel Huntington zurückgeht, dessen „Clash of Civilizations“ im Jahr 1993 den klassisch nationalistischen Gedanken eines Überlebenskampfes der Völker wiederaufleben ließ. Dieser Rückfall in tribalistische Ideologien widerspricht sowohl Kants Vernunftphilosophie als auch der konfuzianischen Kultur des „Ewigen Friedens“. Faktisch lieferte er den geistigen Grund für zwei Weltkriege und ist heute ausgerechnet in Europa auf dem Vormarsch. Angesichts der zwischen der Ukraine, Gaza und Jemen sichtbaren neuen kriegerischen Manifestation dieser selbsterfüllenden Prophezeiung der Feindschaft der Völker ist es heute umso dringender geboten, jede Chance für eine nachhaltige Friedensagenda zu ergreifen, ohne sich dabei sogleich wieder unreflektiert in vermeintliche „eigene Werte“ zu verstricken.
Entsprechend klar ordnet die chinesische Zeitschrift für politische Theorie, Qiushi, den Stellenwert der GCI ein: „Die ganze Welt steht vor einer gemeinsamen Herausforderung, Frieden und Entwicklung zu fördern und einen Weg zur Modernisierung zu finden. Obwohl der Ruf nach Einigkeit, Zusammenarbeit und Dialog lauter denn je ist, behindern Misstrauen, Spaltung und Rivalität noch immer die internationale Zusammenarbeit. Daher ist es von entscheidender Bedeutung, dass wir den Austausch zwischen den Kulturen und die Kontakte zwischen den Menschen fördern.“
Soweit das Angebot Chinas, die Vision der Vereinten Nationen im Interesse der Menschheit auf allen Ebenen zeitgemäß weiterzuentwickeln. Dass dieses Vorhaben nur gelingen kann, wenn zumindest alle mächtigen Staaten an einem Strang ziehen, wissen wir spätestens seit dem 18. Jahrhundert mit Kants Schrift „Zum Ewigen Frieden“ und deren historischen Hintergründen. Dennoch steht zu befürchten, dass Europa wie schon vor etwa elf Jahren, zu Beginn der BRI, die Chance, aus eigener Souveränität die neuen strategischen Instrumente mitzugestalten, nicht wahrnehmen wird. Ob es auch dieses Angebot wieder arrogant vom Tisch wischt, es als feindselig diffamiert, um sich schließlich zu beklagen, dass seine Interessen nicht berücksichtigt werden? Auch wenn sich die geostrategischen Kräfteverhältnisse mittlerweile zugunsten der BRICS-Staaten nach Süden und Osten verschoben haben und der alte Gedanke, sich von hegemonialen Blöcken zu emanzipieren, zu neuem Leben erwacht; auch wenn Europas und insbesondere Deutschlands Macht wirtschaftlich, kulturell und politisch abnimmt: die Pflicht, sich auf realpolitische Klugheit zu besinnen, bleibt bestehen.
Sogar das US-Magazin Foreign Policy warnt heute vor Alarmismus: „Die Vereinigten Staaten werden die Bedeutung dieser Initiativen wahrscheinlich überschätzen. Jede Aktion als Teil eines großen chinesischen Masterplans darzustellen, folgt der konspirativen Logik der extremsten Falken.“
Wenn man nicht von vornherein auf das eigene Lesen politischer Pläne verzichtet und sie zynisch als Lüge verwirft, wenn sie aus einem vermeintlich anderen Lager kommen, sondern sie erst einmal als Ausdruck ernstgemeinter Analyse in Betracht zieht, finden sich wohl Ansätze für gemeinsame Interessen. Wenn man Chinas Bereitschaft, seiner wachsenden Wirtschafts- und Wissensmacht entsprechend zunehmend Verantwortung zu übernehmen und sein Angebot, sich führend an der Bewältigung globaler Probleme zu beteiligen, beim Wort nimmt, liegt in der versuchten Zusammenarbeit die einzige glaubwürdige Probe aufs Exempel. Es wäre unbillig und ungerecht, aus der besonderen Sensibilität Deutschlands gegenüber politischen Führungsansprüchen jede Initiative für internationale Verantwortung im Keim zu ersticken.
Was angesichts dieser neuen „Globalen Zivilisationsinitiative“ jede ideologische Zurückhaltung verbietet, ist das bewährte Potential der vorgeschlagenen konkreten Strategie. Wenn der chinesische Staatspräsident Xi Jinping anbietet, sich für die Stärkung des internationalen gesellschaftlichen und kulturellen Austauschs und der Zusammenarbeit einzusetzen, um die Spielräume für den Aufbau eines globalen Netzwerks für Dialog und kulturelle Zusammenarbeit zu erkunden, dann entspricht das genau der Versöhnungs- und Friedenspolitik, die Deutschland als Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg gezogen hat. Der Unterschied liegt in der Ausgangssituation: während Deutschland aus Schuld handelte, folgt China dem Gebot der Klugheit. Es wird Zeit für Deutschland, dieses bittersüße Wissen nicht nur mit Europa und dem Westen zu teilen, sondern es durch vernünftige Worte und segensreiche Taten der Gesamtheit aller Opfer von brutaler Ungerechtigkeit und gemeiner Menschenverachtung auf der Welt zur Verfügung zu stellen.
Anders ausgedrückt, Kulturdiplomatie, Soft Skills und Soft Power, gegenseitiges Lernen – durch gemeinsames Arbeiten: das sind auch für China hohe Ansprüche, an denen das Land sich messen lassen will. Nehmen wir es beim Wort und handeln wie kulturell zivilisierte Weltbürger!
Ole Döring ist habilitierter Philosoph und promovierter Sinologe. Er arbeitet zwischen Berlin und China an der Verständigung der Kulturen. Er hat eine Vollprofessur an der Hunan Normal University in Changsha inne, ist Privatdozent am Karlsruhe Institut für Technologie und Vorstand des Instituts für Globale Gesundheit Berlin. Die Meinung des Autors spiegelt die Position unserer Webseite nicht notwendigerweise wider.