Das Dorf Yangshao in der Provinz Hebei, benannt nach dem majestätischen Shaoshan-Gebirge, ist berühmt für seine Yangshao-Kultur. Im Oktober 1921 gruben hier der Schwede Johan Gunnar Anderson und der chinesische Gelehrte Yuan Fuli gemeinsam mit anderen Archäologen zahlreiche wertvolle Relikte aus, darunter Keramiken, Stein- und Knochenwerkzeuge sowie alte Muscheln. Yangshao gehört verwaltungsmäßig zur nächstgrößeren Stadt Sanmenxia. Nach archäologischer Praxis wurde die neolithische Stätte im Dorf „Yangshao Culture“ genannt. Die Funde waren spektakulär und warfen die bisherigen Gelehrtenmeinungen, dass China keine neolithische Kultur hätte, über den Haufen. Gleichzeitig markierten die Grabungen von Yangshao die Geburtsstunde der modernen chinesischen Archäologie.
Die chinesische Archäologie, deren Ursprünge also in Yangshao liegen, hat in ihrer nur etwas mehr als hundert Jahre alten Geschichte kontinuierlich wichtige Entdeckungen gemacht und beachtliche Erfolge erzielt.
Wodurch aber zeichnet sich die chinesische Archäologie genau aus? Welche Durchbrüche hat sie im letzten Jahrzehnt erzielt? Und was ist ihre Entwicklungsrichtung für die Zukunft? Mit diesen Fragen im Gepäck haben wir mit dem renommierten Experten Wang Wei gesprochen. Er ist Mitglied der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften, Vorsitzender der Chinesischen Archäologischen Gesellschaft und Verantwortlicher des „Chinese Civilization Origin Project“.
Chinesische Archäologie und der „Standard der Zivilisation“
Wang Wei ist Mitglied der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften, Vorsitzender der Chinesischen Gesellschaft für Archäologie und Leiter des „Chinese Civilization Origin Project“.
Die Archäologie als Wissenschaft habe zwar ihren Ursprung im Westen, die chinesische Archäologie aber zeichne sich von Beginn an durch eigene Merkmale aus, erklärt Wang Wei.
Er sagt: „Chinas Archäologie ist ein integraler Bestandteil der chinesischen Geschichtsschreibung. Ihre Mission ist es, die chinesische Zivilisation und die Geschichte der chinesischen Nation zu erforschen, um den historischen Kontext des Ursprungs und der Entwicklung unserer Zivilisation näher zu ergründen und zu rekonstruieren.“
Gleichzeitig verfüge China über einen riesigen Fundus antiker Dokumente. Die Kombination von Archäologie und historischer Philologie ergänze die historische Forschung, sagt er. „Archäologische Entdeckungen in China haben archäologische und dokumentarische Aufzeichnungen in vielerlei Hinsicht bestätigt, aber auch einige Fehler in den dokumentarischen Aufzeichnungen aufgedeckt.“
In Sachen Archäologie müsse man einen eigenen Entwicklungsweg beschreiten und dürfe fremde Erfahrungsmodelle nicht blind kopieren, so der Wissenschaftler. In der Vergangenheit habe der internationale Standard für die Kategorisierung von Zivilisationen aus drei Elementen bestanden, nämlich Schrift, Metallurgie und Stadtentwicklung. „Studien haben aber mittlerweile gezeigt, dass nicht alle der wichtigsten einheimischen Zivilisationen der Welt diese drei Elemente aufweisen. Das gilt etwa für die Maya-Zivilisation in Mittelamerika ohne Metallurgie. Zudem werden die Siegelmuster der Harappan-Zivilisation im Industal nicht als Schrift anerkannt“, sagt Wang. Dies zeige, dass die drei Beschreibungskomponenten nicht universell seien, sondern aus der ägyptischen Zivilisation und der Zivilisation Mesopotamiens abgeleitet wurden.
Als Ergebnis der jahrelangen Forschung hat China mittlerweile seine eigenen „Zivilisationsstandards“ vorgeschlagen. Sie umfassen die Entwicklung von Produktivkräften, Spezialisierung des Handwerks, soziale Arbeitsteilung, die Entstehung gesellschaftlicher Klassen und Herrschaftsstrukturen wie Kaiser und Könige, und nicht zu vergessen die Entstehung von großen archäologischen Stätten, Hauptstädten sowie hohen Gebäuden wie Palästen, großen Grabanlagen und zeremoniellen Gefäßen, die auf einen hierarchischen Status in Gräbern hinweisen. Diese Dinge geben laut Wang Hinweise darauf, ob eine Form des Zusammenlebens als Zivilisation gewertet werden kann.
Die Merkmale der chinesischen Zivilisation
Blick für die Details: Im Juni 2022 untersuchten Wang Wei und sein Team Ausgrabungsstücke der Sanxingdui-Stätte in Sichuan.
Nach Wangs Ansicht könne man aus archäologischen Funden ablesen, dass Chinas Zivilisation mindestens drei Hauptmerkmale aufweise:
Erstens zeichne sie sich durch eine kontinuierliche und nachhaltige Entwicklung aus: So siedelten in China seit zwei Millionen Jahren Menschen. Reis im Süden und Hirse im Norden erschienen vor etwa 10.000 Jahren; vor mehr als 5000 Jahren traten schließlich verschiedene Regionen Chinas nach und nach in staatenähnliche Formen früher Zivilisationen ein. Danach traten die Königreichszivilisation von Xia, Shang und Zhou sowie die Kaiserzivilisation der Qin- und der Han-Dynastien auf den Plan. Seither entwickelte sich die chinesische Zivilisation kontinuierlich weiter.
Als zweites Merkmal gilt der Grad der Offenheit und Inklusivität: Die chinesische Zivilisation absorbierte und nutzte im Laufe ihrer Geschichte ununterbrochen fortschrittliche Kulturelemente umliegender Regionen und innovierte diese. Das spendete ihr fortwährend Vitalität und ermöglichte ein kontinuierliches Fortkommen. Zum Beispiel finden sich im ganzen Land Relikte buddhistische Klöster und Grotten. Zu ihren bekanntesten Vertretern zählen der Tempel des Weißen Pferdes von Luoyang und die Mogao-Grotten von Dunhuang. Sie sind Zeichen der frühen Einführung des Buddhismus durch die Vorfahren und der schnellen Anpassung des Glaubens an die lokalen Verhältnisse. Die Chinesen integrierten den aus Indien stammenden Buddhismus mit dem lokalen Taoismus und Konfuzianismus und machten ihn auf diese Weise zu einem wichtigen und inhärenten Teil der chinesischen Kultur.
Drittes Merkmal ist die Vielfalt in der Einheit: Im langen Entwicklungsprozess haben die einzelnen Regionen Chinas ein historisches Entwicklungsmuster der chinesischen Zivilisation herausgebildet, das sich auf die Zentralchinesische Ebene konzentriert und durch kontinuierlichen gegenseitigen Austausch und fortwährende Verschmelzung gekennzeichnet war.
Das Goldene Jahrzehnt der chinesischen Archäologie
Zu Besuch in Deutschland: Im Jahr 2000 führte Wang Wei ein Team des Fachbereichs für Archäologie der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften nach Deutschland, um sich mit Fachkollegen auszutauschen und gemeinsame Grabungen durchzuführen.
„Seit dem XVIII. Nationalparteitag der KP Chinas hat die chinesische Archäologie noch einmal einen Aufschwung genommen. Es wurde gewissermaßen ein goldenes Jahrzehnt für unsere Disziplin eingeläutet“, sagt Wang.
In den letzten Jahren hätten Chinas Archäologen auf technologische Mittel und Methoden auf Weltniveau zurückgegriffen. Auch die Zahl der Ausgrabungsstätten sei merklich gestiegen, so der Experte. „Vor zehn Jahren gab es im Schnitt zwischen 300 und 500 Ausgrabungen pro Jahr, jetzt sind es jährlich 1700 bis 1800. Parallel dazu ist auch die Zahl der Hochschulen mit Archäologie als Forschungsfach gestiegen. Vor zehn Jahren waren es nur etwa 40 bis 50, heute sind es mehr als 100. Das bringt natürlich auch eine entsprechende Zahl an Absolventen und Spezialisten hervor und fördert die betreffenden Industriezweige“, so Wang weiter.
Gleichzeitig seien kontinuierlich Projekte wie das „Chinese Civilization Origin Project“ und die Initiative „Archäologie in China“ angestoßen worden – mit fruchtbaren Ergebnissen in prähistorischer Archäologie (wie die Ausgrabung der Shuanghuaishu-Stätte in Gongyi, Henan) und historischer Archäologie (wie die Bestätigung des Grabes des Kaisers Wendi von Han). Die Grenzarchäologie habe ebenfalls große Fortschritte gemacht – hier zähle etwa die Entdeckung der Stadtruinen und Ruinen der Alarmfeuer- und Wachtürme der Dynastien Han, Tang, Song, Yuan, Ming und Qing in Xinjiang, Tibet, der Inneren Mongolei, Heilongjiang und anderen Orten zu den nennenswertesten Ergebnissen. „All dies hat viele wertvolle Informationen für das Verständnis der Herausbildung und Entwicklung eines einheitlichen multiethnischen Staates zutage gefördert“, lobt Wang.
Eine weitere Veränderung des vergangenen Jahrzehnts sei es gewesen, dass Chinas Archäologie zunehmend „global“ gegangen sei. Wang sagt: „In den letzten Jahren haben chinesische Archäologen im Zuge der Umsetzung der Seidenstraßeninitiative aktiv am internationalen archäologischen Austausch sowie an der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit teilgenommen. Das hat den Vergleich zwischen der chinesischen Zivilisation und anderen Zivilisationen weltweit gefördert.“ Chinesische Archäologen reisten heute häufig ins Ausland. „Wir betreiben derzeit gemeinsame archäologische Forschungsprojekte mit mehr als 20 Ländern und unterstützen die lokale archäologische Forschung in anderen Teilen der Welt. Damit ist China zu einer wichtigen Kraft in der internationalen archäologischen Gemeinschaft geworden.“
Erwähnenswert sei zudem, dass die Chinesische Akademie der Sozialwissenschaften und die Stadtregierung von Shanghai im Jahr 2013 gemeinsam das Shanghai Archaeology Forum ins Leben gerufen hätten. Seither findet es im Zweijahresrhythmus statt. Ziel der Veranstaltung ist es, die wichtigsten archäologischen Entdeckungen der Welt und die zentralen Forschungsergebnisse der vergangenen Jahre zu teilen und zu erörtern.
Das Ohr auf die Schiene der Geschichte legen
„Unsere Archäologie ist letztlich nichts anderes als das Wandeln auf den Spuren der Geschichte, die das Territorium der chinesischen Zivilisation verbindet“, sagt Wang.
Und bei der Suche des Ursprungs der chinesischen Zivilisation gehe es keineswegs darum, zu beweisen, in welchen Bereichen die eigene Zivilisation anderen vermeintlich überlegen war. „Was uns interessiert, ist der historische Kontext des Ursprungs, der Herausbildung und der Weiterentwicklung unserer Zivilisation. Das ist es, was wir besser verstehen wollen. Denn nur wenn wir wissen, woher wir kommen, können wir wissen, wohin wir gehen sollten.“
Aus den bisherigen archäologischen Funden gehe eindeutig hervor, dass der Austausch und das gegenseitige Lernen zwischen verschiedenen Zivilisationen stets die treibende Kraft für die Entwicklung der menschlichen Zivilisation gewesen seien, betont Wang. Aufgrund der unterschiedlichen Umgebungen unterschieden sich verschiedene Orte in ihren Lebensgrundlagen, Bräuchen und Gewohnheiten, Überzeugungen und Ideen. Deswegen dürfe man einzelne Länder und Regionen auch nicht am Maßstab Anderer messen. „Das ist, was uns die Geschichte gelehrt hat.“
Was die zukünftige Entwicklungsrichtung der chinesischen Archäologie angehe, sagt Wang zum Abschluss: „Auch in Zukunft sollte sich unsere Disziplin an wissenschaftlichen Maßstäben und an Internationalität ausrichten. Außerdem gilt es, unsere Forschungsergebnisse einer noch breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen.“
*Yin Xing ist Reporter bei China Pictorial.