Die jährlich in Beijing stattfindenden „zwei Tagungen“, nämlich des Nationalen Volkskongresses (NVK) und der Politischen Konsultativkonferenz des chinesischen Volkes (PKKCV), gelten als wichtiges Fenster zur Beobachtung von Chinas wirtschaftspolitischen Entscheidungen. Entsprechend groß ist die in- und ausländische Aufmerksamkeit, die das Politevent alljährlich auf sich zieht.
Angesichts globaler Unsicherheiten in Zeiten von „Trump 2.0“ sowie des internen Abwärtsdrucks der chinesischen Wirtschaft, bedingt durch lange akkumulierte, tiefsitzende strukturelle Herausforderungen, versprechen sich Beobachter von den zwei Tagungen neue Einblicke darüber, wie es die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt mit den aktuellen Umbrüchen hält, sich anpasst und aktiv Veränderungen sucht. Großmachtkonkurrenz, Tech-Revolution, Wirtschaftswandel und soziale Governance – wie forciert China inmitten von Chancen und Herausforderungen sein Wirtschaftswachstum? Wie führt das Land den neuen Weg der chinesischen Modernisierung fort? Am 5. März gab Ministerpräsident Li Qiang Antworten auf viele dieser Fragen, als er auf der dritten Tagung des 14. NVK den Tätigkeitsbericht der Regierung verlas. Das Papier beleuchtet den aktuellen Zustand der chinesischen Wirtschaft und Gesellschaft und legt die Regierungsarbeit des vergangenen Jahres umfassend dar.
Wirtschaftliche Veränderungen
Der Bericht gibt einen systematischen Rückblick auf das stabile Fortkommen von Chinas Wirtschaft und Gesellschaft im Jahr 2024 sowie auf Arbeitserfolge in sieben Bereichen. Er legt nicht nur die angestrebten Ziele und die politische Ausrichtung für die Entwicklung 2025 fest, sondern geht im Detail auch auf zehn zentrale Regierungsaufgaben ein. Bei näherer Betrachtung lassen sich viele neue Begriffe und Formulierungen in dem Papier finden, die erstmals in Chinas Regierungsbericht auftauchen, darunter „verkörperte künstliche Intelligenz“, „6G-Netz“, „Einhorn-Unternehmen“, „Null-Basis-Budgetierung“ (NBB), „Offshore-Handel neuen Typs“, „vermehrte Investition finanzieller Ressourcen in die Menschen“ und „Nachjustierung bzw. Reduzierung geltender Beschränkungsmaßnahmen“. Hinter diesen Schlagwörtern hält sich der Schlüssel zur hochwertigen Entwicklung der chinesischen Wirtschaft und zum Wandel der makroökonomischen Politik verborgen.
Die Industriestruktur wird neuartiger: Der Bericht verweist darauf, dass sich die Produktivkräfte neuer Qualität im Land schnell entwickeln, allen voran KI, New Energy Vehicles (NEV), fortschrittliche Anlagenherstellung, integrierte Schaltkreise sowie Quantenwissenschaft und -technologie. In Sachen Innovationskraft habe China deutlich zugelegt. Im vergangenen Jahr waren smarte Neuerungen „Made in China“ längst nicht mehr nur ein Nischenthema in Finanz- oder Techkreisen, sondern greifbar für die breite Öffentlichkeit und die globalen Märkte: Die jährliche NEV-Produktionszahl knackte die Marke von 13 Millionen und trieb die globale Automobilindustrie in eine „Moore-Ära“, in der Innovationen den Ton angeben. Kurz vor dem Frühlingsfest 2025 veröffentlichte das KI-Startup DeepSeek sein „Modell R1“, das mit extremem Preis-Leistungs-Verhältnis und architektonischen Innovationen die Kapitalblase am US-Aktienmarkt zum Platzen brachte und die Rechenleistungsbarrieren der US-Technologiebranche durchbrach. Die humanoiden Roboter der Firma Unitree (Hangzhou Yushu Science And Technology Co., Ltd) traten in der chinesischen Neujahrsgala auf und mit „Chang'e 6“ brachte erstmals eine Raumsonde Gesteinsproben von der Rückseite des Mondes zurück zur Erde. Chinas Chip-Exporte überschritten die Billionen-Marke und chinesische Kampfjets der sechsten Generation absolvierten erfolgreich ihren Testflug. Die Deutsche Bank schrieb in einem Bericht Anfang Februar, die Hochtechnologiebranche im Reich der Mitte erlebe momentan einen „Sputnik-Moment“. Chinas neue Innovationskraft mache eine Neubewertung des Entwicklungspotenzials und der Vermögenspreise chinesischer Unternehmen auf dem globalen Kapitalmarkt nötig, so das Geldinstitut. Die durch die Entwicklung der neuen Produktivkräfte ausgelöste Aufwertung von Chinas Industriestruktur gewinnt also weiter an Fahrt.
Das Risikobewusstsein wird stärker: Man müsse die Erfolge anerkennen, gleichzeitig bestehenden Problemen und Herausforderungen aber auch nüchtern und objektiv ins Auge blicken, mahnt der Bericht. Externe Risiken würden immer ernster und komplexer, sei es die Behinderung der internationalen Wirtschaftsabläufe oder geopolitische Spannungen. Hauptquell externer Risiken für Chinas Wirtschaft blieben die USA. Kurz vor den zwei Tagungen hatte die seit einem Monat amtierende Trump-Regierung bereits angekündigt, insgesamt 20 Prozent Zölle auf chinesische Produkte zu erheben und in mehreren Bereichen Handelsuntersuchungen und Investitionsbeschränkungen einzuleiten. Im Inland ist derweil die Grundlage für die wirtschaftliche Erholung noch nicht ausreichend stabil. Chinas Konsum schwächelt und Risiken in Schlüsselbereichen wie Immobilien, Kommunalverschuldung und Finanzen halten sich hartnäckig. Gegen all dies ergreift die Regierung jedoch proaktiv Maßnahmen: An erster Stelle unter den genannten zehn Aufgaben steht dabei die Konsumbelebung. Die Regierung betont dabei die Wichtigkeit, bestehende Grenzen strikt einzuhalten, um systematische Risiken zu vermeiden. Erstmals hat sie die Stabilisierung des Immobilien- und Aktienmarktes in ihre allgemeinen Anforderungen für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung aufgenommen. Weitere Maßnahmen zur Stabilisierung der ausländischen Investitionen und des Außenhandels auf hohem Niveau sind angekündigt, während man parallel aktiv innovative Schritte wie die Ausweitung der Funktionen ausländischer Wirtschafts- und Handelskooperationszonen und die Entwicklung von Offshore-Handel neuen Typs erkundet, um den dramatischen Veränderungen im internationalen Wirtschafts- und Handelsumfeld entgegenzusetzen. In engem Zusammenhang damit steht auch die Veränderung der makroökonomischen Politik. Die neue Stellungnahme, dass der neue Ansatz für die Einführung politischer Maßnahmen lautet: „so früh wie möglich“ und „lieber früher als später“, um Zeit gegen Unsicherheiten zu gewinnen, wobei man bei der Entscheidungsfindung den „Bogen genügend spannen soll“ ist beeindruckend und zeigt die Entschlossenheit und hohe Wertschätzung der chinesischen Regierung für die Stabilisierung der Wirtschaft und die Kontrolle von Risiken.
Die politischen Instrumente werden flexibler: Die neue Ausrichtung der makroökonomischen Politik im Bericht hat starke Aufmerksamkeit der Märkte auf sich gezogen. Sie zeigt, dass sich die politischen Überlegungen der chinesischen Regierung zur Bewältigung interner wie externer Wachstumsherausforderungen deutlich verändert haben. Diese Wende trat ein,als das Politbüro des ZK der KP Chinas bei der Sitzung im September 2024 entschlossen ein Maßnahmenpaket zur Senkung der Mindestreserve und der Zinsen, zum Schuldenabbau und zur Belebung des Kapitalmarktes in Angriff nahm, das auf den zwei Tagungen bestätigt und forciert wurde. Die fiskalische Expansion ist beispiellos: Durch die Festlegung eines Haushaltsdefizits von vier Prozent überschreitet China hier erstmals seit Beginn der Aufzeichnungen die Drei-Prozent-Grenze; es werden ultralange Sonderstaatsobligationen in Höhe von 1,3 Billionen Yuan ausgegeben, 300 Milliarden Yuan mehr im Jahresvergleich; Reformen mit dem Ziel von Null-Basis-Budgetierung für eine effizientere Mittelverwendung wurden beschlossen; ebenso eine dynamische Anpassung der Liste von Regionen mit hohem Schuldenrisiko zur Unterstützung neuer Investitionsmöglichkeiten. Erstmals seit 2011 setzt China auf eine „moderat gelockerte“ Geldpolitik und schlägt eine Senkung der Mindestreserve und der Zinsen zu einer gelegenen Zeit vor, um eine stärkere strukturelle Unterstützung für Immobilien- und Aktienmarkt, technologische Innovationen, Konsum und private Unternehmen zu liefern. Das Inflationsziel wurde „offiziell gesenkt, aber tatsächlich erhöht“. Vor dem Hintergrund eines anhaltend niedrigen Preisniveaus bedeutet die Festlegung eines Inflationsziels von zwei Prozent letztlich ein Umdenken, dass nun „Tal zugeschüttet wird“ statt „die Bergspitze abzutragen“. Hier werden nämlich fiskalische und finanzielle Mittel nicht angestrafft, sondern gelockert, um der Wirtschaft neue Mittel zuzuführen.
Wirtschaftliche Konstanten
Der Bericht demonstriert also die Standfestigkeit und Entschlossenheit der chinesischen Regierung inmitten eines großen Umschwungs. Er ist ein Signal der Zuversicht und stärkt die Erwartung, dass Chinas Wirtschaftsschiff auch im neuen Jahr gut vorankommt und das Leben der Chinesen glücklich und gesund bleibt.
Unveränderter Trend zur hochwertigen Wirtschaftsentwicklung: Der Bericht zeigt klar, dass China 2024 trotz zahlreicher Schwierigkeiten und Herausforderungen eine solide Leistung erbracht hat. Das Bruttoinlandsprodukt legte um fünf Prozent zu, damit rangiert China unter den großen Volkswirtschaften der Welt vor. Die Zahl der Beschäftigten in den Städten wuchs um 12,56 Millionen, bei einer durch Stichproben ermittelten städtischen Arbeitslosenquote von 5,1 Prozent. Das Außenhandelsvolumen erreichte ein historisches Hoch. Und mit Blick auf den Anteil am internationalen Markt war ein Wachstum unter Beibehaltung der Stabilität zu verbuchen. Die Getreideproduktion kletterte erstmals auf 700 Millionen Tonnen. Es gelang, die Energieintensität um mehr als drei Prozent zu senken. Die Popularität von DeepSeek während des Frühlingsfestes 2025 und der große Erfolg des Films „Ne Zha 2“ an den Kinokassen haben die internen und externen Erwartungen sowie die Moral der Bevölkerung stark gesteigert und Pessimisten eine deutliche Abfuhr erteilt. Angesichts der deutlich gestiegenen externen Unsicherheiten hält die chinesische Regierung auch in diesem Jahr an einem Wirtschaftswachstumsziel von fünf Prozent fest, was sowohl Entschlossenheit als auch Selbstvertrauen und Zuversicht demonstriert.
Unveränderter Fokus auf soziale Absicherung: Auch in Zukunft sind alle Regierungsbehörden dazu angehalten, sich einzuschränken. China setzt auf eine strikte Finanzdisziplin, Extravaganz und Verschwendung wird ein Riegel vorgeschoben, um mehr Geldmittel für die Entwicklung und die Lebenshaltung der Bevölkerung zu erübrigen. Der Bericht schlägt erstmals vor, mehr finanzielle Ressourcen „in die Menschen zu investieren“ und in den Dienst der Lebenshaltung der Bevölkerung zu stellen, was zeigt, dass Bereiche wie Beschäftigung, Einkommenserhöhung, Konsum, Altersfürsorge, Geburt und Kindererziehung, die das Wohlergehen der Bevölkerung direkt betreffen, in den makroökonomischen politischen Überlegungen deutlich an Bedeutung gewinnen. Sowohl die Forderung, die Erfolge bei der Armutsbekämpfung unermüdlich zu festigen und auszubauen, als auch der Plan, die Beschäftigung mit größerer Kraft zu stabilisieren und auszuweiten, unterstreichen die Bedeutung, die die chinesische Regierung der Stärkung des Teilhabe-, Glücks- und Sicherheitsgefühls der Bevölkerung beimisst. Dies ist auch ein charakteristisches Merkmal des Wegs der chinesischen Modernisierung.
Unverändertes Bekenntnis zur Reform und Öffnung: Die dritte Plenartagung des XX. ZK der KP Chinas hat einen neuen Weg der umfassenden Reformvertiefung und der Förderung der chinesischen Modernisierung eingeschlagen. Die zwei Tagungen setzen diesen Geist tiefgreifend um. Der Regierungsbericht zeigt, dass im vergangenen Jahr neue Durchbrüche bei der Reform und Öffnung erzielt wurden: Die angeordneten Reformen der Partei- und Staatsorgane gelangten zu einem umfassenden Abschluss. Wichtige Reformmaßnahmen wie der Aufbau eines landesweit einheitlichen Marktes sowie die allmähliche Anhebung des gesetzlich verankerten Renteneintrittsalters wurden auf den Weg gebracht; auch wurde die selbstständige und die unilaterale Öffnung geordnet erweitert, im verarbeitenden Gewerbe wurden alle Beschränkungsmaßnahmen für den Zugang ausländischen Kapitals abgeschafft, den Kreis derjenigen Staaten, denen man einseitige Visumfreiheit und längere Aufenthaltszeit gewährt, hat China kontinuierlich erweitert; die Handels- und Investitionszusammenarbeit im Rahmen der Seidenstraßeninitiative wurde weiter ausgebaut und aufgewertet. China gewährt allen am wenigsten entwickelten Ländern, mit denen es diplomatische Beziehungen unterhält, zollfreien Zugang für ihre Produkte. Im Vergleich zu westlichen Ländern, die einem gegenläufigen Trend der Entkopplung und Abschottung folgen, hält China unabhängig von den externen Veränderungen also unerschütterlich an seiner Öffnungspolitik fest, umarmt aktiv den Trend der Globalisierung, teilt die Vorteile seiner Entwicklung mit der Welt und übernimmt als großes Land eine verantwortungsbewusste Rolle, um der zunehmend unruhigen Welt Stabilität und positive Energie zu verleihen.
*Xu Gang ist stellvertretender Direktor des Instituts für Makroökonomie und Strategie der China Institutes of Contemporary International Relations.
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