Ausgehend vom Glocken- und Trommelturm im Norden bis zum Yongding-Tor im Süden zieht sich eine 7,8 Kilometer lange Achse als „kulturelles Rückgrat“ der Stadt durch Beijing und verbindet die Vergangenheit mit der Gegenwart. Die Rede ist von der berühmten Zentralachse. Steht man auf dem Trommelturm, scheint sie sich langsam wie eine historische Schriftrolle vor dem Auge des Betrachters zu entfalten, ein Anblick, der wohl das Herz jedes Touristen höher schlagen lässt.
Lebendiger architektonischer Zeitzeuge
In der Nähe des Trommelturms entdeckt man oft eine ausländische Dame mit silbergrauem Haar. Stets dabei: eine Kamera in ihren Händen, mit der sie die Geschichten und das Leben rund um den Trommel- und Glockenturm einfängt. Die Rede ist von der deutschen Fotografin Kosima Weber Liu. Sie lebt bereits seit mehr als vierzig Jahren in Beijing.
Als Weber Liu zum ersten Mal nach Beijing kam, erkundete sie die Metropole in jeder freien Minute mit dem Velo. Eine ihrer ersten Entdeckungen damals: der Trommelturm. Die Deutsche erinnert sich noch gut an ihre erste „Begegnung“ mit dem historischen Bauwerk. An jenem Tag sei der Turm voller Menschen gewesen, sagt sie. Schnell hatte sich daher eine Menschentraube um sie als Ausländerin gebildet und von allen Seiten versuchte man, mit ihr ins Gespräch zu kommen. Ein Beijinger habe ihr empfohlen, Tickets für die Pekingoper zu kaufen, die abends im Hof des Trommelturms stattfinden sollte. So seien die Deutsche und ihre Freunde an jenem Abend letztlich auf einer schmalen, langen Holzbank gelandet und hätten zum ersten Mal eine quirlige Pekingoper-Vorführung verfolgt. Was sie dabei besonders erstaunt habe: Die Zuschauerinnen und Zuschauer hätten sich während der Vorstellung ausgelassen unterhalten und sogar mitgebrachten Proviant ausgepackt. Alte Architektur, faszinierende Bühnenkunst und menschliche Wärme seien zu einer magischen Mischung verschmolzen, erzählt die Deutsche. Das sei der Beginn ihrer Faszination für die alte chinesische Geschichte gewesen, und für die Beijinger Zentralachse.
Selfie vor der Verbotenen Stadt: Dieser Schnappschuss entstand bei der Besichtigung der Zentralachse. (Foto: Kosima Weber Liu)
Weltweit haben viele Städte ihre eigene stolze Zentralachse. Man denke nur an die Champs Elysées in Paris, Unter den Linden in Berlin oder die National Mall in Washington. Hier liegen Zentrum und kulturelles Herz einer Stadt. Weber Liu findet, dass in Beijings Zentralachse ein herausragender kultureller Wert schlummert. Entlang der Achse befänden sich viele wertvolle architektonische Meisterwerke und Fundstätten, darunter Palastgebäude, alte kaiserliche Zeremoniengebäude, historische Verwaltungseinrichtungen, nationale Zeremonienhallen und öffentliche Einrichtungen, und nicht zu vergessen die Überreste antiker Straßenzüge. Die gesamte Altstadt sei um diese Achse herum angelegt und bilde so ein harmonisch angeordnetes, prächtiges städtebauliches Ensemble.
Auf den Spuren des historischen Beijings pilgert die deutsche Fotografin bis heute immer wieder gerne entlang der Zentralachse. In ihren ersten Jahren in der Hauptstadt sei sie an Sommerabenden gerne über den Platz des Himmlischen Friedens geradelt. Dort konnte man sich von der Tageshitze erholen und mit anderen Besuchern gemeinsam gemütlich auf den Sonnenuntergang warten. Kinder spielten auf dem Platz und ließen Drachen steigen, während ihre Eltern daneben den neuesten Klatsch austauschten. In der Nähe des berühmten Platzes finden sich die Einkaufsmeile Wangfujing und das Hutong-Viertel Dashilan (im Beijinger Dialekt auch Dashilar genannt), beides quirlige Spots, die ebenfalls stets gut besucht sind. Was sie am tiefsten beeindrucke, verrät uns Weber Liu, sei aber die alte steinerne Yinding-Brücke, die über den Houhai führe. Die kraftvoll geschwungene historische Brücke mit ihrem pittoresken Blick auf den See, den imposanten Trommelturm und das quirlige Durcheinander der Passanten sei und bleibe einfach der schönste Ort für sie in ganz Beijing.
In ihrer Freizeit lässt sich die passionierte Fotografin oft mit ihrer Kamera im Schlepptau durch das Meer der malerischen Gassen und Sträßchen, im Beijing-Sprech Hutongs genannt, rund um den Houhai treiben. Sie zeigt uns ihre Fotos. Weber Liu lichtet nicht nur gerne prächtige alte Gebäude ab, sondern auch die Lebensfreude der Menschen. Ihre Aufnahmen fangen viele bewegende Momente ein: den Alltag der einfachen Leute in den Hutongs, spielende Kinder im Freien, turtelnde Pärchen vor den roten Mauern des Trommelturms. Ihre Momentaufnahmen zeigen uns eine wunderbare Melange aus alter Kultur und modernem Großstadtleben.
Beschauliches Hutong-Leben: Dieser wuschelige Hauptstadtbewohner begrüßt die Besucher am Eingang eines Wohnhofes. (Foto: Kosima Weber Liu)
Junge Skater vor alten Gemäuern: Eine Szene eingefangen am Beijinger Glockenturm. (Foto: Kosima Weber Liu)
„Rot gehen“ ist auf Chinesisch ein Synonym für „viral gehen“: Da wundert es kaum, dass die roten Mauern rund um den Trommelturm als beliebtes Fotomotiv herhalten. (Foto: Kosima Weber Liu)
China im Aufbruch
1959 kam Weber Lius Vater als Posaunist der Dresdner Philharmonie nach China, um den zehnten Jahrestag der Gründung der Volksrepublik zu feiern. Nach seiner Chinareise brachte er viele Fotos mit nach Deutschland. Dies war das erste Mal, dass Weber Liu, damals noch ein Mädchen, mit dem fernen Land in Kontakt kam.
1979 bot sich Weber Liu unerwartet die Gelegenheit, einen Sommersprachkurs in Beijing zu absolvieren. Glücklicherweise blieb daneben noch Zeit, einige Wochen durchs Land zu reisen. Die Globetrotterin erinnert sich gerne zurück: „Danach packte mich das Chinafieber und ich bewarb mich spontan für ein zweijähriges Austausch-Studienprogramm beim Deutschen Akademischen Austauschdienst.“ In den 1980er Jahren wurde in China gerade die Reform- und Öffnungspolitik eingeführt. Damals sei alles längst noch nicht so schnell und bequem gewesen wie heute, gibt die Deutsche zu bedenken. „Es war damals ein richtiges Abenteuer, nach China zu gehen.“ Der Kontakt nach Hause sei eigentlich nur per Brief möglich gewesen. Man habe zwar auch anrufen können, aber dazu weit in die Stadt radeln müssen, entweder zum Beijing Hotel oder zum Telefon- und Telegrafenamt. Für ein internationales Telefongespräch musste man zudem einiges berappen.
Trotz oder gerade wegen der Rückständigkeit Chinas zu jener Zeit sei es ein ganz besonderes Erlebnis gewesen, damals die chinesische Gesellschaft zu erleben. „In China hatte man damals keinerlei Druck zu überlegen, was man anziehen solle. Geld spielte eine nur sehr untergeordnete Rolle“, erinnert sich Weber Liu. Alles sei recht nachhaltig gewesen und wurde wiederverwendet. „Natürlich war nicht alles rosig. Aber China war damals im Aufbruch, das spürte man einfach“, sagt sie rückblickend.
Während ihrer vierzigjährigen Zeit in China hat die Deutsche den Aufstieg Chinas hautnah miterlebt. Diese Zeit fiel genau in die Ära der Reform und Öffnung. Während ihr eigenes Leben im Kleinen immer wieder neue Bahnen fand, veränderte sich gleichzeitig auch das große Ganze, und die Millionenstadt Beijing. Die Deutsche erklärt uns, dass alles, was heute so bequem und selbstverständlich sei, noch vor vierzig Jahren nur „ein vager Traum“ gewesen sei. In ihren Augen prägt die atemberaubende Moderne Beijing nicht weniger als seine jahrtausendealte Geschichte. Die hoch aufragenden Wolkenkratzer, die ausgeklügelte Infrastruktur und die künstlerischen Aktivitäten geben trotz allem den Blick frei auf eine andere, ältere Seite der geschichtsträchtigen Stadt, die so lebendig und dynamisch ist, damals wie heute.
Der letzte Schnee schmilzt in der Sonne: Auf beiden Seiten der Trommelturm-Straße gibt es eine Vielzahl von Geschäften. (Foto: Kosima Weber Liu)
Schutz und Weiterentwicklung der Zentralachse
1951 prägte der berühmte chinesische Architekt Liang Sicheng erstmals das Konzept der „Beijinger Zentralachse“ und lobte diese als „die längste und größte städtische Nord-Süd-Achse der Welt“. Während der Eröffnungszeremonie der Olympischen Sommerspiele 2008 startete denn auch das prächtige Feuerwerk der „Großen Fußabdrücke“ vom Yongding-Tor aus und blühte von dort aus Schritt für Schritt entlang der Zentralachse auf, bis es schließlich das Nationalstadion, das Vogelnest, erreichte. Menschen in aller Welt wurden sich dank der fulminanten Live-Übertragung des Wunders dieser bis heute gut erhaltenen Achse bewusst. 2022 schickte China die Beijinger Zentralachse als sein Bewerbungsprojekt zur Neuaufnahme in die Weltkulturerbe-Liste 2024 ins Rennen. Das Ergebnis der Bewerbung wird im Sommer dieses Jahres auf der 46. UNESCO-Welterbe-Konferenz bekannt gegeben werden.
Weber Liu sagt, es sei ermutigend zu sehen, dass der historische Kern Beijings auch dank des Bewerbungsprojekts nun noch besser geschützt werde. Sie hofft, dass der Schutz der Zentralachse Strahlkraft haben wird und dazu führt, dass auch andere historische Gebiete der Stadt „behutsam modernisiert“ werden, wie sie sagt. Beijing mit seinem filigranen Netz aus alten Gassen und Sträßchen zu erleben, sei einfach faszinierend, schwärmt die deutsche Fotografin. Zudem verfüge Beijing seit alten Zeiten über ein wissenschaftlich fein ausgeklügeltes Wassersystem, bestehend aus Wasserwegen, Seen und alten Brunnen. Auch diese historischen Stätten lohne es, unter besonderen Schutz zu stellen, rät sie. „Je mehr Besonderheiten der Stadt lebendig erhalten bleiben, umso mehr wird sich Beijing seine Identität bewahren. Der Schutz der Zentralachse ist eine Chance für Beijing, eine Stadt zu werden, die ihre Wurzeln und Geschichte bewusst schützt und an die nachfolgenden Generationen weitergibt“, sagt die Wahl-Beijingerin.
Die Zentralachse der Hauptstadt sei in vielerlei Hinsicht wertvoll, nicht nur wegen ihrer architektonischen Schönheit, sondern auch wegen ihres kulturellen Wertes und ihrer innovativen Weiterentwicklung. Aus architektonischer Sicht steht die alte Achse für Ordnung und Symmetrie. Schon in der Zhou-Dynastie (1046-256 v. Chr.) gab es diesbezüglich die ersten stadtplanerischen Konzepte – „die Hauptstadt soll in einem 6,3 mal 6,3 Kilometer großem Quadrat mit drei Toren auf jeder Seite angelegt werden“, hieß es damals in offiziellen Dokumenten. Und weiter: „Die Gebäude außerhalb des Palastes sind symmetrisch angeordnet, mit dem Ahnentempel auf der östlichen Seite und dem Altar des Landes und des Getreides auf der westlichen Seite.“ Der Bau der Zentralachse entspricht klar dem antiken Stadtplanungskonzept. Von dieser „Spiegelachse“ aus entwickelten die Stadtplaner ein quadratisches, wohl arrangiertes Stadtmuster, das schon damals ein Schlaglicht auf Beijings Stellung als politisches Zentrum des Landes warf. Die Verbotene Stadt formt bis heute das Herzstück der Stadt. Auf beiden Seiten des Kaiserpalastes errichteten die ehemaligen Kaiser nach alter Tradition jeweils den Ahnentempel und den besagten Altar.
Aus geschichtlicher und kultureller Sicht gilt die Zentralachse auch als Sinnbild der Offenheit und Inklusivität der chinesischen Kultur. Sie überdauerte mehrere Dynastien, so dass sie zu einem Schmelztiegel verschiedener Kulturen wurde und vom Entwicklungsprozess der chinesischen Zivilisation zeugt, der von verschiedenen ethnischen Gruppen geprägt wurde.
In Sachen innovative Entwicklung geht die Zentralachse mit der Zeit, strebt stets nach Veränderungen und Neuem. Heute hat sich der alte architektonische Komplex in einen öffentlichen Raum für Politik, Wirtschaft, Kultur, Ökologie und Gesellschaft verwandelt. Entlang der Achse gibt es viele verschiedene städtische „Landschaften“ – der weitläufige Platz des Himmlischen Friedens etwa ist ehrwürdig. Im Dashilan-Viertel wuseln derweil die Shoppenden kreuz und quer durcheinander, was vom heutigen materiellen Reichtum der Chinesen zeugt. Und das Palastmuseum begrüßt Gäste aus aller Welt und präsentiert ihnen das tief verwurzelte kulturelle Erbe Chinas. Im Zhengyang-Tor können Tierliebhaber derweil die friedlich nistenden Regenschwalben beobachten. Und die flankierenden Hutong-Viertel mit ihren vielen Gässchen und Winkeln sind voller menschlicher Wärme und erzählen vom Leben der einfachen Menschen. In Zukunft wird China die Zentralachse definitiv weiter schützen und ausbauen, um ihr Erbe lebendig zu halten und die Stadt und ihre Geschichte ins neue Jahrtausend zu tragen.