Früher eher etwas für Nischenpublikum, heute Massenmagnet: In jüngster Zeit hat die Yue-Oper, früher auch als die Shaoxing-Oper bekannt, über nischige Liebhaberkreise hinaus breite Bekanntheit gewonnen. Dazu hat insbesondere das Opernstück „New Dragon Gate Inn“ beigetragen, das vor allem das junge Publikum begeistert. Karten sind vielerorts schnell vergriffen. Was fasziniert die Jugend neuerlich an dieser klassischen Kunstform? Die Antwort lautet: glühendes Engagement und Innovation.
Publikumsmagnet: Die drei Hauptdarstellerinnen von „New Dragon Gate Inn“. (Foto: xinhuanet)
Chen Lijun – diesen Namen sollten Sie sich merken
Der 6. August 2023 sollte für Fans traditioneller chinesischer Opernaufführungen zu einem Highlight werden. Denn an diesem Tag wurde die Oper „New Dragon Gate Inn“ auf Douyin, der chinesischen Version von TikTok, in Echtzeit übertragen. Das Livestreaming lockte rund neun Millionen Zuschauer an und löste lebhafte Diskussionen im Internet aus. Während der Zugabe der Oper hob Darstellerin Chen Lijun ihre Partnerin mit einer Hand hoch und setzte zu einer Pirouette an. Ein Clip der Szene verbreitete sich rasch online. Der elegante Stil und die unwiderstehliche Chemie zwischen den beiden Darstellerinnen entfachte im Handumdrehen ein regelrechtes Yue-Opernfieber im Netz.
Heute gilt die 31-Jährige Chen als beliebteste Nachwuchs-Performerin der Yue-Oper. Die Begeisterung ihrer Fans ist nicht nur online spürbar, sondern auch im Theater. Seit der Premiere Ende März letzten Jahres hat das Ensemble „New Dragon Gate Inn“ schon mehr als 130 Mal aufgeführt. Tickets sind nach dem Verkaufsstart meist innerhalb von Sekunden vergriffen.
Der Erfolg dieser Künstlerin der Generation Y ist kein Zufall, sondern das Ergebnis von Schweiß und harter Arbeit. Im zarten Alter von 13 Jahren hatte Chen einst begonnen, sich mit der Yue-Oper zu beschäftigen. 2013 trat sie dem Ensemble Zhejiang Xiaobaihua bei und übernahm eine männliche Rolle. Eines der bezeichnenden Merkmale der Yue-Oper ist nämlich, dass es sich bei den meisten Darstellern um Frauen handelt, die selbst die männlichen Rollen mimen, was der Oper einen ausgesprochen femininen Stil verleiht.
Bevor die engagierte Nachwuchskünstlerin die Hauptrolle in der Oper „New Dragon Gate Inn“ übernahm, verbrachte sie zehn Jahre damit, die Melodien, Texte, das Spiel und den Bühnengang der männlichen Rolle zu lernen. In „New Dragon Gate Inn“ gibt es eine Kampfszene, die die Zuschauer besonders feiern. Darin misst sich Chen, eine Teetasse in den Händen, kämpferisch mit ihrem Gegner. Videoaufnahmen der spektakulären Szene, die die behänden Bewegungen der Darstellerinnen zeigen, gingen im Handumdrehen im Internet viral. Damit auf der Bühne alles glattgeht, haben die beiden Künstlerinnen das Kampfspiel im Vorfeld bei den Proben unzählige Male einstudiert, wobei sie sich zahlreiche blaue Flecken an Armen und Knien zuzogen.
Trotz ihrer Berühmtheit ist Chen auf dem Teppich geblieben. Dabei hat die alte Kunstform dem Hype um das Nachwuchstalent viel zu verdanken. Vor der Ära Chen und „New Dragon Gate Inn“ kämpfte die Yue-Oper mit einem Zuschauerschwund. Die 31-Jährige vergleicht sich selbst bescheiden mit „einem kleinen Stein“, der ins Wasser geworfen wird und so das Interesse des jungen Publikums weckt. Gegenüber den Medien erklärt sie voller Enthusiasmus, dass sie Verantwortung für die Fortführung und Weiterentwicklung der traditionellen chinesischen Kultur übernehmen wolle. In Zukunft wolle sie noch mehr gute Opernwerke auf die Bühne bringen, um wieder vermehrt junge Zuschauerinnen und Zuschauer in die Opernhäuser zu locken und sie dieser chinesischen Kulturperle näherzubringen.
In Aktion: Star Chen Lijun hat eine große Fangemeinde. Auf der Bühne mimt sie meist Männerrollen. (Foto: xinhuanet)
Innovation bringt neuen Schwung
Die Yue-Oper entstand im Jahr 1852 und stammt aus der Stadt Shaoxing in Zhejiang. Heute hat sich die Kunstform zur zweitgrößten Schule der traditionellen chinesischen Oper entwickelt. In ihrer Blütezeit kannten Alt und Jung in China die Oper „Butterfly Lovers“ und konnten „Vom Himmel fiel Schwester Lin“ mitsingen. Doch seit den 1980er und 1990er Jahren ist die traditionelle chinesische Oper im Niedergang begriffen, wird von vielen neuen Unterhaltungsformen herausgefordert und verliert beim Publikum an Boden.
Um die jüngere Generation wieder anzusprechen, hat sich die Truppe Zhejiang Xiaobaihua der Innovation der traditionellen Oper verschrieben. Bestes Beispiel hierfür ist das Erfolgsstück „New Dragon Gate Inn“. Während frühere Yue-Opernstücke stets um Liebesgeschichten kreisten, handelt es sich bei dem neuen Stück um eine kreative Adaption eines gleichnamigen Spielfilms. Es geht um eine Geschichte in einer kämpferischen Welt, eine Story, deren Ästhetik den Nerv der jungen Zuschauer trifft.
Ein weiterer Clou: Das Ensemble setzt auf ein immersives Theatererlebnis für mehr Tuchfühlung mit dem Publikum. Um die Geschichte lebendiger zu machen, haben die Macher das Theater in ein Gasthaus mit geheimen Gängen umgestaltet. Bühne und Zuschauerplätze hat man geschickt in das Set integriert. Die Zuschauer werden so zu einem Teil des Theaters und spielen die Reisenden, die in das Gasthaus kommen. Dadurch durchbrechen die kreativen Köpfe hinter dem Stück die vierte Wand des Theaters und sorgen für eine magische Interaktion zwischen Darstellern und Publikum.
Hinter dem innovativen Werk steckt ein Team junger Kreativer, das sich vorwiegend aus Mitgliedern der Generation Y und Z zusammensetzt. Der Regisseur ist Jahrgang 1985, der Bühnenbildner Jahrgang 1990 und der Dramaturg gehört der Generation Z an. Auch die Hauptdarstellerinnen Chen und ihre Partnerin Li Yunxiao erblickten in den 1990er-Jahren das Licht der Welt. Das junge Team versteht den Geschmack der Jugend und nutze dieses Wissen, um ein Werk zu schaffen, das bei der Zielgruppe gut ankommt.
Problem nur: Da der Platz im Theater begrenzt ist, waren auch der Reichweite der Yue-Oper lange Grenzen gesetzt. Um das Problem zu lösen, versuchte das findige Team, ihr Werk über Social-Media-Plattformen zu verbreiten. Auf diese Weise wollten die Macher die einstige Nischenkunst dem Alltagspublikum zugänglicher machen, mit Erfolg.
Weiterentwicklung traditioneller Kultur
Obwohl „New Dragon Gate Inn“ jüngst für einiges Aufsehen sorgte, ist das Xiaobaihua-Ensemble aus Zhejiang natürlich nicht die einzige Truppe, die eine Wiederbelebung der traditionellen chinesischen Oper anstößt. Vor der Inszenierung der Film-Adaption hatten auch schon zahlreiche andere Opern-Ensembles verschiedener Schulen im Land damit begonnen, Wege zu erforschen, wie sich der alten Kunstform neues Leben einhauchen lässt.
Beispielweise brachten Künstler eine Neuauflage des Stücks „Päonien-Pavillon“, das zur Kunqu-Oper gehört, auf die Bühne. Die neue Version des Werks, die für die junge Generation anschaulicher und erlebbarer war, sorgte für frischen Wind in der Szene. Die Guangdong-Oper hat derweil ihren Klassiker „Die weiße Schlange“ verfilmt. Der Kassenschlager schaffte es sogar auf die internationale Bühne – er war Teil der Festivalauswahl der Internationalen Filmfestspiele von Venedig und fand großen Anklang beim ausländischen Publikum.
Die Verschmelzung von traditioneller Kultur mit modernen Elementen ist ein neuer Trend bei der Weiterentwicklung der alten chinesischen Kultur, nicht nur im Bereich der Oper, sondern auch in vielen anderen Feldern. Der Erfolg von „New Dragon Gate Inn“ dürfte noch mehr engagierte, junge Talente wie Chen in ihrem Verantwortungsbewusstsein bestärken und sie ermutigen, an ihre kreativen Fähigkeiten und ihre Bedeutung für die Wiederbelebung der traditionellen Kultur zu glauben. Und dies bildet eine gute Basis dafür, Chinas alte Kultur an kommende Generationen weiterzugeben.