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Kommentar zu den chinesisch-europäischen Beziehungen: Neue Triebkräfte in Zeiten der Reform und Öffnung auf hohem Niveau

2022-11-02 23:29:00 Source:german.chinatoday.com.cn Author:Prof. Dr. Wu Huiping
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Gute Aussichten: Prognosen zufolge wird der Hafen Tianjin 2022 mehr als eine Million TEU an Fracht auf dem See- und Schienenweg befördern. (Foto: Xinhua, 25. Oktober 2022) 

  

In dieser Woche wird Olaf Scholz mit einer Wirtschaftsdelegation in China erwartet. Der deutsche Bundeskanzler ist der erste Staats- bzw. Regierungschef eines westlichen Landes, der seit Beginn der Coronakrise in die Volksrepublik reist. Seine Stippvisite wird ohne Zweifel ein positives Signal dafür setzen, die chinesisch-europäischen Beziehungen in der Post-Corona-Zeit sicheren Schrittes weiterzuentwickeln.  

  

Der Besuch kommt im rechten Augenblick. Denn gegenwärtig gestalten sich diese Beziehungen zusehends komplex. Beide Seiten sehen sich mit wachsenden Herausforderungen und immer mehr Unwägbarkeiten konfrontiert. Die europäischen Staaten stecken in einer Zwickmühle, das externe Sicherheitsumfeld hat sich merklich verschlechtert. In der Folge wächst das Bewusstsein auf dem Kontinent, sich besser zu schützen und unabhängiger zu machen. Nach außen möchte Europa derweil mehr Stärke demonstrieren und sich als ein starkes Pol in der internationalen Politik zu behaupten. Die eigene Einflusskraft und das Mitspracherecht in Bezug auf regionale wie internationale Angelegenheiten sollen steigen, so der Wunsch.  

  

Schon zu ihrem Amtsantritt forderte die Europäische Kommission, Europa müsse die Sprache der Macht lernen. Es solle die europäische, digitale und technische Souveränität entwickelt werden. Die Forderungen nach einer Neuausrichtung in den Bereichen Handel, Technologie, Industrie, Digitales und Klimaschutz reißen dementsprechend nicht ab. Ziel müsse es sein, vor allem Europas Resilienz bei Rohstoffen und Lieferketten zu erhöhen, neue Handelspartner anzuwerben und nach alternativen Märkten zu suchen. Eingeführt wurde viele politische Instrumente wie etwa zur Prüfung von Investitionen aus Nicht-EU-Staaten und zur Gewährleistung der 5G-Sicherheit, um „Europäische Champions“ in wichtigen Industrienbranchen sowie in Wissenschaft und Technologie herauszubilden. Zudem wurde eine Reihe neuer Strategien, einschließlich einer eigenen Indopazifik-Strategie, auf den Weg gebracht. 

  

Was die China-Politik der EU angeht, so stammt diese aus dem Jahr 2019, als man den Dreiklang von China als Kooperationspartner, Wettbewerber und systemischen Rival festschrieb. Seither ist vor allem das letzte Schlagwort immer mehr in den Fokus gerückt. Vor diesem Hintergrund arbeitet Europa derzeit mit Hochdruck daran, seine China-Politik neu aufzustellen. Es wird gar überlegt, die internationale Zusammenarbeit mit China bei Klimawandel, Katastrophenschutz, Ernährungssicherheit und Gesundheit sukzessive zurückzuschrauben. Wahrnehmung und Positionierung Chinas in den Augen der Europäer tendieren dabei zur Erstarrung, gepaart mit einer starken Politik und verfestigten Standpunkten. Dies spiegelt letztlich die zunehmende Angst und Wachsamkeit vor dem „systemischen Rival“ China. Unter dem Vorwand einer vermeintlichen Bedrohung der nationalen Sicherheit haben die EU-Mitgliedstaaten in den vergangenen Jahren immer wieder Investitionen und Übernahmen durch chinesische Unternehmen blockiert, insbesondere in den Bereichen kritische Infrastruktur und Hochtechnologie.     

  

De facto ist die nationale Sicherheit aber ein Thema des Zeitalters, das China und Europa gleichermaßen am Herzen liegt. In ihrem Bericht auf dem jüngst zu Ende gegangenen XX. Parteitag hat die KP Chinas wiederholt betont, Entwicklung und Sicherheit auch in der Zukunft in Einklang zu bringen. Einerseits hat China den umfassenden Aufbau eines modernen sozialistischen Land zur primären Aufgabe erklärt. Gelingen soll dies mit Hilfe eines neuen Entwicklungskonzepts, das im Bericht ausführlich vorgestellt wird. Es wird eine qualitätsvolle Entwicklung im Rahmen eines neuen Entwicklungsgefüges angestrebt. Andererseits wird im jüngsten Parteitagsbericht auch das nationale Sicherheitssystem genau erläutert, das unter der Leitidee eines umfassenden Sicherheitskonzeptes steht. Dazu gesellen sich politische Orientierungen wie die Gewährleistung der Ernährungssicherheit, die Erhöhung der Resilienz und Sicherheit von Industrie und Lieferketten und nicht zuletzt auch die rasche Verwirklichung von Selbständigkeit und Stärke in Wissenschaft und Technologie, und zwar auf hohem Niveau. China plant zudem, originäre und zukunftsweisende technologische Durchbrüche zu erzielen, die sich an den strategischen Erfordernissen des Landes orientieren. 

  

All dies ähnelt Europas politischer Marschroute. Auch die europäische Staatengemeinschaft zielt schließlich auf größere wissenschaftlich-technologische Souveränität und stärkere Überprüfung der Sicherheit von kritischer Infrastruktur und Hochtechnologie.  

  

Die Betonung des Faktors Sicherheit sollte jedoch nicht als Verschärfung der einschlägigen Politik für ausländische Unternehmen missverstanden werden. Im Gegenteil: Der jüngste Parteitagsbericht bekräftigt die konsequente Fortsetzung von Chinas Öffnungsstrategie zum gegenseitigen Nutzen und gemeinsamen Gewinnen. Das Dokument hebt hervor, dass die entscheidende Rolle des Marktes bei der Ressourcenallokation weiterhin voll zur Geltung gebracht werden soll. Von der Warte der gegenwärtigen strategischen Positionierung aus sollen Reform und Öffnung auf hohem Niveau fortgesetzt werden. Dies steht weit oben auf der Agenda. Angesichts des großen Wandels in unserem Zeitalter hat China seine Strategien entsprechend angepasst. Dies schlägt sich zum Beispiel in der Ausgestaltung des neuen Entwicklungsgefüges nieder, in dem der große inländische Wirtschaftskreislauf die Hauptrolle spielen und der inländische und der internationale Kreislauf einander als Doppelkreislauf fördern sollten.  

  

China wird auch in Zukunft auf der wirtschaftlichen Globalisierung als richtiger Richtung sowie der Öffnung nach außen als grundlegender Staatspolitik im neuen Zeitalter beharren. Wie dies geschehen wird, steht zweifellos im Fokus der internationalen Öffentlichkeit. 

  

Ausgehend von der weiteren Förderung der Reform und Öffnung auf hohem Niveau wird im neuen Parteitagsbericht auch auf die viel diskutierte Entkopplung eingegangen. China setzt darauf, die Interessenschnittmengen mit anderen Ländern auszuweiten und eine globale Partnerschaft auszugestalten, die durch Gleichberechtigung, Öffnung und Zusammenarbeit gekennzeichnet ist. Die systembedinge Öffnung in Bezug auf Vorschriften, Regeln und Standards soll sicheren Schrittes ausgeweitet werden. Geplant ist, die Qualität und das Niveau des internationalen Kreislaufs weiter zu erhöhen sowie den Aufbau einer offenen Weltwirtschaft voranzubringen. Zu den primären Aufgaben zählt auch, neue Triebkräfte für die globale Entwicklung herauszubilden, ein entwicklungsfreundliches internationales Umfeld zu schaffen und eine vielgestaltige und stabile internationale Wirtschaftsordnung aufrechtzuerhalten.   

  

Die Zivilisationen der Welt sind ein Kaleidoskop der Vielfalt. Als Pionier der Modernisierung hat Europa die Welt mit einem europäischen Modell für moderne Regierungsführung und gesellschaftliche Modernisierung bereichert, und zwar durch eigene Konzepte, Methoden und Praxiserfahrungen. Im Geiste von „In Vielfalt geeint“ wurde die europäische Integration Schritt für Schritt vorangebracht. Ziel des europäischen Integrationsprozess ist es, historische, entwicklungsmäßige und systemische Unterschiede unter den europäischen Nachbarn zu überwinden und gemeinsame Entwicklung zu erreichen. Auch China schlägt genau in diese Kerbe. Der jüngste Parteitagsbericht unterstreicht, dass die Chinesische Modernisierung den Fortschritt der menschlichen Zivilisation in neuer Gestalt ständig bereichert. Chinas ganz eigener Weg der Modernisierung bietet eine neue Alternative für die Lösung der gemeinsamen Probleme der Menschheit. 

  

China ist ein riesiges Land mit einer jahrtausendealten Zivilisation und ganz eigenen Besonderheiten in Bezug auf Traditionen der politischen Kultur, Mentalitäten des Volkes und soziale Milieus. Man ist in China darauf bedacht, im Prozess des Aufbaus eines großen und modernen Landes chinesische Lösungskonzepte für die wichtigen Fragen der Menschheit zu liefern – etwa für eine harmonische Koexistenz von Staaten, Mensch und Natur sowie zwischen den Völkern, und zwar mit Rücksicht auf die Besonderheiten der Modernisierungswege aller Länder und auf die eigenen Gegebenheiten und Entwicklungserfahrungen.  

  

Derweil steht Europa infolge der Ukraine-Krise vor schwierigen Herausforderungen, die sich vor allem in hohem Inflationsdruck, Energieversorgungsengpässen und einer drohenden Rezession niederschlagen. Auch wird der Klimaschutz von den aktuellen Verwerfungen in Mitleidenschaft gezogen, sodass einschlägige Pläne nicht wie gewohnt umgesetzt werden können. Angesichts der sich gerade vollziehenden Zeitenwende ist es in Europa Zeit für ein Umdenken. Dabei ist es ratsam, die Mentalität des Kalten Krieges über Bord zu werfen und stattdessen nach mehr strategischer Weitsicht zu streben. 

  

China befürwortet eine internationale Ordnung, die durch Vielschichtigkeit, Ausgewogenheit und Interdependenz gekennzeichnet ist. Die Volksrepublik tritt dafür ein, die grundlegenden Normen der internationalen Beziehungen zu wahren und den eigenen Standpunkt und die jeweilige Politik stets mit Blick auf Recht und Unrecht in der konkreten Sachlage zu bestimmen. China wünscht sich dabei ein starkes Europa, das als Anker in einer pluralisierten Welt fungiert. 

  

In der Vergangenheit ist es China und Europa gemeinsam gelungen, eine umfassende, breitgefächerte und vielschichtige strategische Partnerschaft zu begründen. Längst sind beide Seiten zentrale Handelspartner für einander. Besonders erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang die Felder grüne Entwicklung und Digitales. Hier sind die strategischen Agenden der europäischen und chinesischen Entwicklungspläne in hohem Maße kompatibel, auch wenn jede Seite natürlich eigene Akzente setzt. 

  

Europa hat sich vor allem die grüne und digitale Transformation auf die Fahnen geschrieben, in der Hoffnung, dass Nachhaltigkeit und Digitalisierung die Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft in der kommenden Zeit bestimmen und anführen werden. Im Bereich Umweltschutz wurde der „Green Deal“ vorgeschlagen, und man hat politische Innovationen, die auf dem Konzept der grünen Entwicklung fußen, in verschiedenen Bereichen angestoßen, etwa bei Energie und Verkehr sowie in der Industrie. Europa hat sich das ehrgeizige Ziel gesetzt, der erste kohlenstoffneutrale Kontinent des Globus zu werden. Im Digitalbereich wurden Entwicklungsstrategien wie eine gezielte Digitalstrategie angestoßen, es wurde ein Weißbuch über künstliche Intelligenz veröffentlicht und eine Strategie für Cybersicherheit eingeführt, gefolgt von der Formulierung einer ganzen Reihe von neuen Gesetzen, Vorschriften, Standards und Normen. 

  

Auch in China sind Digitalisierung und grüne Entwicklung zentrale Schlagwörter. Beide Bereiche werden in Chinas 14. Fünfjahresplan explizit hervorgehoben und auch in den Vorgaben und langfristigen Zielen bis zum Jahr 2035 in den Fokus gerückt. China hat die Themen Grün und Digital als Hauptrichtungen für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung im eigenen Land festgelegt. Der jüngste Parteitagsbericht hat diese Marschroute noch einmal unterstrichen. Hier heißt es, dass die grüne Entwicklung mit entsprechenden Entwicklungsmethoden beschleunigt und ein digitales China aufgebaut werden sollen.   

  

In Zeiten eines komplizierten und wechselhaften internationalen Umfeldes sind also China und Europa gleichermaßen in der Lage, Weisheit und Konzepte für die Förderung der Modernisierung der Weltgemeinschaft bereitzustellen. Beide Seiten sollten daher an ihrer strategischen Partnerschaft festhalten. Auf der Basis ihres grundlegenden Konsens in Bezug auf Multilateralismus, internationale Zusammenarbeit und Pluralismus sollten sie ihre strategischen Kontakte aufrechterhalten, das gegenseitige Vertrauen stärken und Bedenken ausräumen, um sich gemeinsam den globalen Herausforderungen widmen zu können. Es wird unerlässlich sein, auch in Zukunft nach neuen Wachstumspunkten für die Zusammenarbeit zu suchen und die Kooperation auf eine neue Stufe zu heben. Robuste chinesisch-europäische Beziehungen sind letztlich ein dringend notwendiger Anker im Gefüge der internationalen Beziehungen, und auch ein unverzichtbarer Impulsgeber für mehr Dynamik. 

  

*Wu Huiping ist Professorin und stellvertretende Direktorin des Deutschlandforschungszentrums der Tongji-Universität.  

 

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