Deutschlands Bundeskanzler Olaf Scholz ist der erste G7- und EU-Staatschef, der China seit dem Pandemieausbruch und nach dem XX. Parteitag der Kommunistischen Partei bereist. Er hat seine Chinareise offenbar mit einem realistischen Sinn für die Interessenslagen beider Länder absolviert. Der Besuch war sicherlich zu kurz, um der Wichtigkeit der Beziehungen beider Länder voll gerecht zu werden. Es wurden jedoch konstruktive Gespräche auf höchster Ebene geführt, die beiden Seiten Nutzen bringen und dazu beitragen werden, die fünf Jahrzehnte deutsch-chinesischer Beziehungen erfolgreich fortzuschreiben. Scholz betonte die Chancen bei der deutsch-chinesischen Kooperation, wenngleich er wegen des starken politischen Drucks erwartungsgemäß auch umstrittene Fragen ansprach. Der Fokus aus chinesischer Sicht war vor allem der Ausbau der wirtschaftlichen Kooperation.
Der chinesische Staatspräsident Xi Jinping trifft am 4. November in der Großen Halle des Volkes in Beijing den deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz. (Foto: Xinhua)
Engere Zusammenarbeit
Beim Empfang des Bundeskanzlers betonte Staatspräsident Xi Jinping, dass die 50-jährige Geschichte der deutsch-chinesischen diplomatischen Beziehungen zeige, dass trotz der Unterschiede ein stabiler und stetiger Fortschritt möglich sei, solange die Grundsätze des gegenseitigen Respekts, der Suche nach Gemeinsamkeiten, sowie der Win-Win-Kooperation aufrechterhalten werden. In Bezug auf die chinesisch-europäischen Beziehungen erklärte Xi Jinping, dass für die globale Stabilität und den Wohlstand Eurasiens von großer Bedeutung seien. China betrachte Europa als einen umfassenden strategischen Partner, unterstütze seine strategische Autonomie, hoffe auf ein stabiles und prosperierendes Europa sowie bestehe darauf, dass die chinesisch-europäischen Beziehungen nicht gegen eine dritte Partei gerichtet, von ihr abhängig oder ihr unterworfen seien. Xi sagte zudem, die internationale Situation sei derzeit komplex und wechselhaft. Als einflussreiche Mächte sollten China und Deutschland in Zeiten des Wandels zusammenhalten, um mehr zu Weltfrieden und Entwicklung beizutragen.
Scholz sagte seinerseits, die gegenwärtige internationale Lage sei kompliziert und ernst, wobei Europa auch vor noch nie dagewesenen Herausforderungen stehe. China spiele eine wichtige Rolle bei der Bewältigung vieler globaler Probleme, sei zugleich auch ein wichtiger Wirtschafts- und Handelspartner Deutschlands und Europas. Deutschland lehne eine „Abkopplung“ ab und wolle die Wirtschafts- und Handelskooperation mit China weiter vertiefen. Deutschland sei auch bereit, sich mit China über Themen auszutauschen, bei denen die Positionen beider Seiten nicht übereinstimmten, um das Verständnis und das gegenseitige Vertrauen zu verbessern. Deutschland sei gegen eine Konfrontation zwischen verschiedenen Lagern und sei bereit, seine Rolle bei der Förderung der Entwicklung der europäisch-chinesischen Beziehungen zu spielen.
Wichtig war auch das Zusammentreffen zwischen Scholz und Chinas Staatsratschef,Ministerpräsident Li Keqiang. Der Staatsrat ist das Gremium, in dem weitreichende wirtschaftspolitische Entscheidungen getroffen werden. Li sprach auf der gemeinsamen Pressekonferenz mit Scholz von Gesprächen in einer „offenen, ehrlichen und faktenbasierten Atmosphäre“. Man sei sich einig, dass Deutschland und China als zwei große Volkswirtschaften eng zusammenarbeiten müssten, um den globalen Unsicherheiten und Spannungen entgegenzutreten. Man habe sich ausführlich über die Möglichkeiten der pragmatischen Kooperation unterhalten, vor allem im Bereich des Handels und wechselseitigen Marktzugangs. Scholz schlug vor allem eine engere Zusammenarbeit bei der Pandemiebekämpfung und bei den Themen Klimawandel und Biodiversität vor. Außerdem bot er China an, sich an einer gemeinsamen Sicherheitsstrategie der G-7 Staaten zu beteiligen.
Besondere Übereinstimmung gab es in den Bereichen der globalen Energie- und Hungerkrise. Scholz brachte die unsichere Getreideversorgung in den armen Ländern auf. Li sprach von der notwendigen gemeinsamen Entschlossenheit, die Versorgung mit Energie- und Nahrungsrohstoffen sicherzustellen und die Märkte zu stabilisieren.
Keine Entkopplung
Der Besuch des Kanzlers fand im Kontext einer derart aufgeheizten Stimmung statt, dass man dessen ruhigen und routinierten Auftritt fast schon bewundern mochte. Seine beiden Vorgänger, Angela Merkel und Gerhard Schröder, haben eine derartige Medien- und Polithysterie so nicht über sich ergehen lassen müssen. Sowohl die eigenen Koalitionspartner als auch die Opposition haben nahezu nichts unversucht gelassen, bereits im Vorfeld von Scholz‘ Chinabesuchs das Klima möglichst stark zu vergiften.
Das Bundeskanzleramt hatte vor Scholz‘ Abflug bekanntgegeben, in den Gesprächen werde es um die gesamte Bandbreite der beiderseitigen Beziehungen gehen, aber auch um internationale Themen wie etwa die gemeinsamen Anstrengungen bei der Bekämpfung des Klimawandels, die Ukraine-Krise oder Spannungen in der Region Ost-Asien.
Scholz selbst hatte in einem Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 3. November noch erläutert, worum es ihm bei seiner Reise nach Peking ging. China werde „eine bedeutende Rolle auf der Weltbühne spielen – so wie übrigens über weite Strecken der Weltgeschichte hinweg.“ Er stellt aber fest, dass sich davon weder ein „Anspruch auf hegemoniale Dominanz Chinas“ noch eine „sinozentrische Weltordnung“ ableiten ließe. Er wolle deshalb keine Entkopplung von China, andererseits aber „riskante Abhängigkeiten“, etwa bei bestimmten Rohstoffen und Zukunftstechnologien entflechten.
Wichtige Handelspartner
In Chinas Tageszeitung China Daily hieß es von zahlreichen Experten, der Besuch des deutschen Kanzlers sei eine „Gelegenheit, die Zusammenarbeit zu stärken“ und den „Auswirkungen geopolitischer Konflikte und wirtschaftlicher Unsicherheit entgegenzuwirken.“ Der Sprecher des Außenamtes in Peking, Zhao Lijian, erinnerte an die strategische Partnerschaft beider Länder. Man werde einen „in die Tiefe gehenden Meinungsaustausch über die deutsch-chinesischen Beziehungen, China-Europa-Beziehungen, und die weltweite Dynamik und Governance“ pflegen. Man gehe davon aus, dass Besuch zum Weltfrieden, zu Stabilität und Wachstum“ beitrage.
Die jüngsten Zahlen sprechen für sich. China ist zum sechsten Mal in Folge Deutschlands wichtigster Handelspartner, mit steigender Tendenz. Laut Zahlen des Statistischen Bundesamtes stiegen die deutschen Exporte in die Volksrepublik im August dieses Jahres um 2,9% im Vergleich zum Vormonat auf 9,2 Milliarden Euro an. Im gleichen Zeitraum stiegen auch die Importe aus China in die Bundesrepublik um 2,2% auf 15,4 Milliarden Euro.
Zeremonie zur Inbetriebnahme der ersten BASF-Produktionsanlage am neuen Verbundstandort Zhanjiang in der südchinesischen Provinz Guangdong am 6. September 2022 (Foto: Xinhua)
Industrie braucht China
Für die deutsche Volkswirtschaft ist China gerade in Zeiten von Covid-19 und trotz des Lockdowns ein Anker der Stabilität gewesen. Deutschen Industrieunternehmen ist die strategische Wichtigkeit des chinesischen Marktes und Chinas zunehmende Rolle als Technologieführer in vielen Bereichen bewusst. Es wundert also nicht, wenn es angeblich 100 Bewerbungen um die Mitreiseplätze gegeben haben soll. Leider sind nur 12 deutsche Industriekapitäne im Kanzlerflugzeug mitgereist, wie immer unter Führung des Vorsitzenden des Asien-Pazifik-Ausschusses der deutschen Wirtschaft (APA), diesmal Siemens Vorstandschefs Dr. Roland Busch.
Zur Delegation zählten die CEOs von Deutsche Bank (Christian Sewing), Volkswagen (Oliver Blume), Biontech (Uğur Şahin), aber auch von Merck, Adidas, Hipp, GeoKlimaDesign, BMW, Wacker, und BASF. Li Keqiang lud nach der Pressekonferenz noch zu einem Runden Tisch mit der deutschen und chinesischen Wirtschaft an, bei dem es diverse Großprojekte ging. BASF besipielsweise baut derzeit mit Investitionen von zehn Milliarden Euro ein neues Werk in Zhanjiang in der Provinz Guangdong. Siemens verlagert unter seinem sogenannten “Projekt Marco Polo” wichtige Technologien aus dem Bereich Fabrikautomation und Digitalisierung nach China. Volkwagen verkauft mittlerweile jedes zweite Auto in China – das waren im Jahr 2021 3,3 Millionen Fahrzeuge. Für die deutsche Automobil- und Maschinenbauindustrie ist China ein extrem wichtiger Markt. BMW, Mercedes und VW unterhalten angeblich 16 Zentren für Forschung und Entwicklung in China.
Am Abend chinesischer Zeit erreichte dann noch die Meldung die Öffentlichkeit, die China Aviation Equipment Group Corporation und Airbus in Peking hätten einen Vertrag über den Kauf von 140 Airbus-Flugzeugen im Gesamtwert von rund 17 Milliarden US-Dollar unterzeichnet. Man darf sicherlich mit weiteren Meldungen solcher Art rechnen.
Steigende Investitionen
China will bis 2035 ein modernes Marktsystem aufbauen, um China in Bezug auf digitale Wirtschaft und Industrie zur Weltspitze aufsteigen zu lassen. Deutsche Unternehmen wollen daher ihren „lokalen Fußabdruck“ vergrößern und mit der High-Tech-Initiative Chinas kollaborieren, hieß es heute auch in den chinesischen Medien. Investitionen aus Deutschland nach China sind förmlich in die Höhe geschossen. In den ersten neun Monaten dieses Jahres stiegen sie laut Auskunft des chinesischen Handelsministeriums um 114,3 % an. Deutsche Unternehmer, die bereits in China operieren, gehen von einer langfristigen Stabilität und positiven Rahmenbedingungen für ihr Geschäft aus.
Dies steht derzeit in starkem Kontrast zu den dramatisch hohen Energiekosten und den Versorgungsproblemen in Deutschland, die durch Marktversagen, strenge Lieferkettengesetze und die Sanktionspolitik der Europäischen Union gegenüber Russland verursacht worden sind. Der Erdgaskonzern Uniper beispielsweise verzeichnete wegen der astronomisch hohen Einkaufspreise gerade ein katastrophales Minus von 40 Milliarden Euro. Private und kommunale Haushalte ächzen ebenfalls unter der Last.
China Aufstieg und Wirtschaftskraft ist Teil der Lösung, nicht des Problems. Bundeskanzler Scholz hat auf seiner Chinareise einen besonnenen Kompromiss geschafft zwischen den überlebenswichtigen Fragen der deutschen Volkswirtschaft einerseits und der Befriedigung bestimmter politischer Interessen anderseits. Er wird sagen können, er habe kontroverse Themen angesprochen. Er wird aber auch sagen können, er habe mit Blick auf die gemeinsamen Interessen Deutschlands und Chinas für globale Stabilität und Versorgungssicherheit den bislang erfolgreichen Beziehungen beider Länder einen Weg nach vorne geebnet.
*Stephan Ossenkopp ist Senior Researcher am Schiller Institute Berlin und Senior Copy-Editor am China Institute of International Studies Beijng.