Planst du für ein Jahr, so säe Weizen;
Planst du für ein Jahrzehnt, so säe Bäume;
Planst du für ein Jahrhundert, so säe Talente.
– Meister Guan
Die alten Griechen nannten ihre Grundausbildung „παιδεία“ (paideia). Ihr Ziel war es, „Schönheit und Güte“ (καλός κἀγαθός) zu kultivieren und dabei alle verfügbaren Ressourcen zu nutzen, um den menschlichen Körper und Geist zu formen und zu verfeinern. Zusammengefasst wurde dies in dem berühmten Motto „mens sana in corpore sano“. Dieses alte und glorreiche Erbe stammt aus der mediterranen Welt, die als Wiege der westlichen Zivilisation gilt. Geopolitisch war Griechenland damals auf dem Höhepunkt seiner Einflusskraft. Doch auf dem Gebiet der Kultur und Wissenschaft hatten die griechischen „Eroberungen“ schon viel früher begonnen: sie reichten von Homers epischen Gedichten bis zur Philosophie des Aristoteles. Fest steht: der menschliche Geist wurde im Tempel des Olymps ein- für allemal verändert.
Auf der anderen Seite des Indischen Ozeans, jenseits der Wüste Gobi, die als von „Barbaren“ bewohnt galt, fand sich eine andere große menschliche Zivilisation gerade in ihrer Ära der Streitenden Reiche. Damals vereinigte das Königreich Qin China durch einen entscheidenden Sieg. Ab 221 v. Chr. leistete das ferne Land Pionierarbeit in einem Reich, das den Römern als „Seres“ bekannt war, ein Name, der sich von Chinas Seidenproduktion ableitete. Um den Europäern exquisite Stoffe zu liefern, wurde eine weltberühmte Passage eröffnet, die zwei „Länder der Mitte“ verband: das Mittelmeerimperium und das Reich der Mitte. Die Rede ist hier natürlich von der antiken Seidenstraße. Seide war nicht nur Namensgeber besagter Handelsroute, sie wurde auch zu einem Garn, das die beiden Zivilisationen an beiden Zipfeln des eurasischen Kontinents miteinander verwob.
Die alten Griechen, die zwischen China und Europa wandelten, wurden zum Bindeglied zwischen den beiden Zivilisationen. Chinesen und Europäer zollten der griechischen Zivilisation gleichermaßen Respekt. Ein moderner Ausdruck dieser alten Bindung war ein Seminar über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der chinesischen und griechischen Zivilisationen, das am Neujahrstag 2022 an der Renmin-Universität in Beijing stattfand. Zu Sokrates' Zeiten konnte der Sport vorübergehend Kriege verhindern. Und auch heute noch ist er einer der wichtigsten Treiber für den kulturellen und friedlichen Austausch. Mit der Wiederbelebung der chinesischen Archäologie gibt es Grund zu der Annahme, dass das Interesse an der klassischen Welt den Chinesen eine neue Runde der „querelle des anciens et moderne“ bringen wird. Im Europa des 19. Jahrhunderts machte die Archäologie die Überreste griechischer Tempel und Rosetta-Steine weithin bekannt. Nun sehen wir neuerliche akademische Bemühungen, einen ernsthaften Vergleich zwischen den zwei alten Zivilisationen anzustellen. Dies ist besonders wichtig in der heutigen Zeit, in dem immer wieder der „clash of civilizations“ als Interpretationsschablone bemüht wird.
Vom goldenen Ei zur perfekten Stadt
Jede große Kultur wurde aus einem alten Schöpfungsmythos geboren. Anfangs war alles Chaos, eine unsichtbare Lavamasse. Sie war der Ausgangspunkt von Hesiods Darstellung in der Theogonie. Später nannte Orpheus dieses Urding das „goldene Ei der Welt“. Auch die hinduistische Mythologie greift auf einen ähnlichen Mythos zurück. Und auch in der alten chinesischen Literatur finden sich Parallelen. Die Mythen der Chinesen stammen allerdings aus der Zeit vor den Ereignissen, die in der Ilias (ca. 1280 v. Chr.) vor mindestens 1000 Jahren aufgezeichnet wurden.
Der Legende nach bevor das Universum erschaffen wurde, war es chaotisch wie ein riesiges Ei. In diesem riesigen Ei wurde Pangu geboren, der dann Himmel und Erde voneinander trennte. Wie die Götter des Olymps besitzt Pangu menschliche Emotionen. Der Mythos besagt, dass Pangus Tränen flossen und aus ihnen der Gelbe Fluss und der Jangtse entsprangen.
Die katastrophalen Überschwemmungen des Gelben Flusses wurden zum Gordischen Knoten, der zu dieser Zeit chinesisch war. Die Naturkatastrophen schränkten den politischen wie wissenschaftlichen Fortschritt ein: Indem er diesen Katastrophen Einhalt gebot, erklomm Yu (禹) der Große den Thron. Zuvor war er ein Gefolgsmann des Shuns gewesen. Die Kontrolle über das Element des Wassers erlaubte es Yu, „iure imperii“ zu regieren. Die chinesische Kultur gilt als Pionier in der organischen Verbindung und Anwendung von geographischem Wissen, wissenschaftlichen Annahmen und politischer Organisation. Später wählte Shun (舜) der Große besagten Yu zu seinem Nachfolger, was Yu zum ersten König Chinas machte. Die neue Xia-Dynastie (2070-1600 v. Chr.) rief Anyi (安邑) zur Hauptstadt aus, teilte ihr Reich in neun Verwaltungseinheiten auf und ordnete sie in der gleichen Reihenfolge.
Im Westen entwickelte Kleisthenes von Athen erst 1500 Jahre später eine Theorie in Form einer politischen Konstruktion: nämlich des Marktplatzes (ἀγορά) als Oberstem Rat. Hier legte jeder Bürger seine eigenen Privilegien und alle sozialen Hierarchien beiseite und praktizierte politische Freiheit in einem Zustand der Gleichheit vor dem Gesetz (νόμος) und seinen Mitbürgern (reiche, freie und edle männliche Bürger). Diese Gleichheit schlug sich selbst in der Stadtplanung wider. Athen formte konzentrische Kreise um den Marktplatz im Zentrum, wo ein Dialog zwischen Gleichberechtigten stattfand.
Philosophischer Kontrast und metaphysische Vorurteile
Kehren wir aber zur vergleichenden Untersuchung der chinesischen und altgriechischen Zivilisationen zurück. Experten haben versucht, den gegenseitigen Bezug zwischen den zwei großen Hochkulturen vor der klassischen Ära zu verfolgen. Beide, die alten Chinesen wie auch die alten Griechen, warteten mit unverwechselbaren Ideen, Konzepten und Philosophien auf, die jedoch sehr unterschiedlich aussahen. Es erübrigt sich zu erwähnen, dass die Originalität und der revolutionäre Charakter der griechischen Philosophie in der ganzen Welt bekannt sind und die orientalistische Literatur, die den Osten als Ursprung der Zivilisation feiert, einander genau widerspiegeln. Die Originalität der Griechen lässt sich in drei Faktoren zusammenfassen: dem Wissenschaftsstatus der Philosophie, dem objektiven spekulativen Charakter der Philosophie und ihrer unvergleichlichen Bedeutung im Vergleich zu allen anderen Wissenschaften (die Philosophie galt als Mutter aller Wissenschaften).
Nach neuesten Forschungsergebnissen sind westliche Vergleiche des chinesischen philosophischen Denkens jedoch immer noch voreingenommen, ja, können gar als Zeichen des mangelnden Verständnisses der chinesischen Schriften und der chinesischen Kultur gewertet werden. Der französische Philosoph und Sinologe François Jullien bestätigte zunächst, dass die strukturellen philosophischen Unterschiede zwischen den beiden Zivilisationen in der Entdeckung und Existenz der Metaphysik liegen. Während die Griechen, insbesondere Parmenides, Platon und Aristoteles, in der Lage waren, „jenseits der Natur (φύσις)“ zu spekulieren, so Jullien, fehle es der chinesischen Philosophie am Übergang aus dem naturalistischen „Logos“ (λόγος, „Ideen“) zur Vernunft (νόησις).
Dabei drückte schon vor Jahrhunderten die mythologische Figur Fu Xi (伏羲) den Kern des späteren I Ging (易经, „Buch der Wandlungen“) in einfachen Trigrammen aus: die perfekte Theorie der Entsprechung zwischen phänomenologischen Entitäten oder Prozessen und irreduziblen und/oder überempfindlichen Gedanken/Formen, die jeweils aus drei vollständigen Liniensegmenten (阳Yang) und/oder unterbrochenen Linien (阴Yin) bestehen. Wenn wir tatsächlich anfangen, über Metaphysik aus Aristoteles' „Wissenschaft jenseits der Physik“ (μετά τα φυσικά) oder aus Platons „Zweitbester Segelfahrt“ (δεύτεερος πλοῦς) zu sprechen, dann enthüllt das I Ging mindestens ein Jahrtausend im Voraus die Form der Existenz oder Materie (εἶδος) und den strukturellen Hintergrund der Existenz bzw. Materie (οὐσία).
Wenn der Ursprung der kosmologischen Interpretation des Universums, die Interpretation der Welt aus natürlicher Sicht und die Interpretation des Menschen aus historischer Sicht immer noch mythologisch sind, dann entstand mit dem I Ging in der chinesischen Kultur eine neue Denkweise, die die Realität und die Ganzheit der Existenz neu ergründete. Tatsächlich ist für Chinesen das Konzept des Tao (bzw. Dao) die höchste Ordnung, von der alles abhängt, ja, durch die alles vorherbestimmt wird. Ein Liniensegment (Yang) und eine unterbrochene Linie (Yin): Das Yang ist männlich-positiv und ursprünglich, Yin hingegen weiblich-negativ und subsidiär. Das Tao existiert vor dem Nichts, also bevor das „Sein“ aus dem Nichts erwächst. In Laozis (老子) philosophischem Klassiker, dem Tao Te King (道德经), finden sich hierzu detaillierte Beschreibungen:
„Sein und Nichtsein ist ungetrennt durcheinander,
ehe Himmel und Erde entstehen.
So still! so leer!
Allein steht es und kennt keinen Wechsel.
Es wandelt im Kreise und kennt keine Unsicherheit.
Man kann es fassen als die Mutter der Welt.
Ich weiß seinen Namen nicht.
Ich bezeichne es als ‚SINN‘.“
(Übertragung ins Deutsche von Richard Wilhelm, Tao Te King, XXV)
Dao ist in der chinesischen Philosophie aller Dinge Ursprung und das Ende seiner selbst:
„Der Mensch hat die Erde zum Vorbild.
Die Erde hat den Himmel zum Vorbild.
Der Himmel hat den SINN zum Vorbild.
Und der SINN hat sich selber zum Vorbild.“
(Übertragung ins Deutsche von Richard Wilhelm, Tao Te King, XXV)
Im Altgriechischen bezieht sich diese Bezeichnung auf Platons Vergötterung des „Einen“, von dem das (mannigfaltige) Ganze abhängt und das dessen Ursache ist. Dieses „Eine“ hat für Platon einen höheren Stellenwert als das Konzept des „Einen“ in der Henologie (vom altgriechischen Wort ἕν, „eins“), so wie bei Laozi, wo das unveränderliche Tao „vor Himmel und Erde“ existierte, während es für Aristoteles mit dem ontologischen Sein zusammenfiel.
Aber diese Referenzen betreffen nicht nur die beiden oben erwähnten großen Philosophen des alten Griechenlands. Die Harmonie von Yin und Yang erinnert manchmal auch an den Heraklit von Ephesos. Tatsächlich glaubte dieser, dass „alles fließt“ (πάντα ῥεῖ), das heißt, dass die Realität ein kontinuierliches Werden darstellt, sodass nichts wie es selbst ist:
„Wer in denselben Fluss steigt, dem fließt anderes und wieder anderes Wasser zu.“ (Heraklit, Überbleibsel, Paragraph 12)
Aus der Yin-Yang-Theorie entwickelte der chinesische Philosoph Zou Yan (邹衍) schließlich die Fünf-Elemente-Lehre von Feuer, Metall, Wasser, Holz und Erde. Hier besteht ebenfalls eine Analogie, nämlich zu den Naturforschern der vorsokratischen Ära. Zum Beispiel glaubte Thales (Θαλής), dass das Urprinzip (ἀρχή) aller Dinge im Wasser liegt. Laut der Unendlichkeit von Anaximander (Ἀναξίμανδρος) lag es hingegen in der Luft und nach Ansicht Heraklits im Feuer. Zou Yans Gedanke deckt sich jedoch am ehesten mit Empedokles (Ἐμπεδοκλῆς) von Agrigent. Dieser war der Auffassung, dass alles aus der Vereinigung der Liebe (φιλότῆς) und Trennung der vier Urstoffe (Erde, Luft, Feuer und Wasser) durch Streit (νείκος) hervorgeht.
Und was hat es mit dem sogenannten Qi auf sich?
Für die chinesische Philosophie, insbesondere für die chinesische Medizin, ist das Qi der Atem des Lebens, die inhärente Energie eines jeden Menschen. Es ist der lebensspendende Geist. Das Qi existiert in verschiedenen Formen im menschlichen Körper. Anscheinend war es dieser vitale Geist, dem die Griechen derweil einst den Namen "πνεῦμα" (Pneuma, Atem, Wind) gaben. Dieser Gedanke wurde von den Neuplatonikern aufgenommen und verfeinert, bevor er auch vom Christentum weitgehend absorbiert wurde. Eine typische Erklärung hierzu findet sich etwas bei Thomas von Aquin.
Über die menschliche Natur
Von der Zhou-Dynastie bis zu den Song- und Ming-Dynastien erwuchs in China eine Vielzahl an Denkschulen. Laut dem Historiker Ban Gu zählt das Reich der Mitte acht wesentliche Denkschulen, die wichtigsten darunter Konfuzianismus und Taoismus (Daoismus). Konfuzius verlagerte das Interesse der Chinesen auf politische und gesellschaftliche Fragen, während er Metaphysik und theologische Studien auf die lange Bank schob (obwohl letztere nie wirklich vernachlässigt wurden).
Auch in der politischen Philosophie gibt es einen interessanten Kontrast zwischen der chinesischen und der westlichen Zivilisation:
Erstens beschäftigten sich die alten Chinesen nicht so sehr mit der theoretischen Suche nach der besten Regierungsform (z.B. Monarchie, Aristokratie, Republik usw.), sondern berücksichtigten eher Überlegungen über die moralische Verantwortung des Herrschenden, insbesondere über die persönliche Moral des Kaisers.
Die Auswahl der Herrschenden bzw. der Gelehrten, die dem Kaiser dienten, basierte auf dem Grad ihrer Tugendhaftigkeit und Weisheit. Sowohl Chinesen als auch Griechen betrachteten die „Tugenden“ (ἀρετή) der „herrschenden Klasse“ als das A und O. Sokrates nahm das Thema Tugend immer wieder auf und rückte es in einen breiten Fokus. In Platons Dialogen ist es eng verwandt mit der griechischen Entdeckung der „Seele“ (ψυχή), die der Welt in Form von mythologischen Metaphern von Reitern und Pferdewagen präsentiert wird.
Während jedoch in China die Bildung nur Bürokraten und die Aristokratie hervorbrachte, zielte sie in Griechenland darauf ab, die Menschen zu „Griechen“ zu erziehen. Bildung (παιδεία), so glaubte man im alten Griechenland, unterscheidet im Wesentlichen zwischen Mensch und Tier, und sie umfasst jene Fähigkeiten (arti), die als menschlich gelten und die das Ziel all ihrer Arbeit sind.
Platon selbst benutzte den Begriff „Reminiszenz“ oder „Anamnese“ (ἀνάμνησις), während Mencius schrieb: „Die Bildung dient uns zu nichts anderem als nur dazu, unser verloren gegangenes Herz zu suchen.“ Dies ist genau das Geheimnis, das die beiden Zivilisationen in Bezug auf den Stellenwert der Bildung verbindet.
Einen umfassenden Vergleich zwischen China und Griechenland, zwei derart wichtigen Ländern in der Geschichte des Weltdenkens, in aller Gänze anzustellen, würde gewiss den Rahmen dieses Beitrages sprengen. Zum Beispiel habe ich bewusst darauf verzichtet, auf Konfuzius' Gedanken in aller Tiefe einzugehen. Ich hoffe dennoch, dass dieser Text das Interesse einer neuen Generation an vergleichenden Kulturstudien weckt und zu einem klaren Verständnis der Entdeckungen, Konzepte, kulturellen Elemente und des historischen Erbes beiträgt, die der ganzen Welt innewohnen. Uhren, Kompasse, Papier, Teleskope und viele der Erfindungen, von denen Europa einst profitierte und es noch immer tut, kamen ursprünglich aus China, einer der ältesten bekannten Zivilisationen bis heute. Der große qualitative Sprung auf den Gipfel des menschlichen Denkens, der in Griechenland stattfand, ist ebenso unbestreitbar. Er war so groß, dass sein Kern nur schwerlich zusammenzufassen ist. Doch von den obigen Ausführungen von Pangu bis Platon erhalten wir noch einige Hinweise, die sich mit unserer allgemeinen Intuition decken. Und dies reicht meines Erachtens aus, um einige der Argumente zu entkräften, die den „Kampf der Kulturen“ unterstützen.
*Matteo Parigi ist freier Journalist und Kolumnist der Website für politische Kultur, ideeazione.com.