Im Westen sind manche emsig dabei, neue Mauern zu errichten. Vor diesem Hintergrund braucht unsere Welt umso mehr eine ordentliche Portion Nüchternheit. Denn nur mit freiem Kopf erkennt man, was wirklich nötig ist für gemeinsamen Fortschritt und weltweite Entwicklung. China ging im Jahr 2013 mit gutem Beispiel voran und schickte die Seidenstraßeninitiative an den Start – ein inklusives Großprojekt, das allen Ländern offen steht. Das Ziel: eine Plattform für Zusammenarbeit schaffen, die es den Anrainerländern ermöglicht, durch vielfältige Kooperationsprojekte die Wirtschaft in Fahrt zu bringen und den kulturellen Austausch zu vermehren. Grundsteine der Initiative sind Freundschaft und Zusammenschluss. Ende Juni haben nun auch die führenden Industrienationen der Welt eine eigene globale Infrastrukturinitiative angekündigt, mit einem Investitionsvolumen von 600 Milliarden US-Dollar. Doch statt diese darauf auszurichten, greifbaren Nutzen für die Entwicklungsländer zu generieren, dient sie vor allem dazu, China Konkurrenz zu machen.
Seit dem Startschuss vor knapp einem Jahrzehnt ist es der Seidenstraßeninitiative derweil gelungen, die geographische Vernetzung und Verbindung spürbar voranzutreiben. Sie hat Staaten, Menschen und Unternehmen über Kontinente hinweg näher zusammengebracht. De facto beschert die Initiative nicht nur den Ländern auf der Südhalbkugel weitgehendere Entwicklungschancen und Alternativen, sondern bietet auch den Industrieländern noch stärkeres Vernetzungspotential. All dies trägt zur Neuinterpretation des Konzeptes der internationalen Gemeinschaft bei – das noch bis vor kurzem de facto lediglich eine Handvoll Länder in der nördlichen Hemisphäre umspannte.
Neue Jobs dank Belt-and-Road: Lokale Arbeiter auf einer Baustelle für die zweispurige Autobahn zum neuen internationalen Flughafen Bugesera im östlichen Teil Ruandas. Das Projekt wird von der China Road and Bridge Corporation realisiert.
Geschichte formt den Staatscharakter
Die an Weisheiten reiche chinesische Sprache hat für fast jede Lebenslage einen passenden Spruch parat. „Wer reich werden will, muss Straßen bauen“, heißt einer davon. Auch das ist ein Blickwinkel, aus dem man die inspirierende Kraft der Seidenstraßeninitiative betrachten kann. Das Mammut-Projekt verdeutlicht letztendlich die geoökonomische Realität dieses digitalen Zeitalters. Dabei hat sich heute natürlich nicht die Geographie selbst verändert, sondern lediglich wie wir diese wahrnehmen und mit ihr umgehen. China hat die Idee, dass Straßen den Weg zum Reichtum pflastern, erfolgreich auf unsere heutige Zeit übertragen. Dabei lautet Chinas Motto: gemeinsamen Wohlstand und Chancen für alle schaffen und gemeinsam profitieren.
Nun steuert die neue Seidenstraße auf ihren zehnten Geburtstag zu. Keine Spur von Müdigkeit ist erkennbar, doch es lässt sich auch nicht leugnen, dass das Projekt vor enormen Herausforderungen steht. Infrastruktur ist das physische Fundament, auf dem Wirtschaft, Beschäftigung, Tourismus und weitere soziale Bedürfnisse und auch unsere Finanzdienstleistungen aufgebaut sind. Infrastruktur kann auch zur Armutsbekämpfung beitragen – Chinas größtes Erfolgsfeld in den letzten vier Jahrzehnten. Experten gehen davon aus, dass der weltweite Bedarf an Infrastruktur bis 2035 ein Volumen von 14 Billionen US-Dollar erreichen wird, wobei sich eine Finanzierungslücke von 4,3 Billionen US-Dollar ergeben dürfte, das entspricht etwa 270 Millionen US-Dollar pro Jahr. Zu diesem Fazit kommt auch Jin Liqun, Präsident und Vorsitzender der Asiatischen Infrastrukturinvestmentbank (AIIB) in dem Buch „China and the World: The Long March Towards a Community of Shared Future for Mankind“. Vor diesem Hintergrund ist die Schaffung nachhaltiger Synergien unabdingbar. Eine Plattform, die solche Synergieeffekte generiert, ist die AIIB. Das geschah jüngst wieder durch öffentliche Konsultationen, die die Bank im Juni und Juli zu ihrer aktualisierten Strategie für den Energiesektor durchführte. Ziel war es, interessierten Akteuren neue Möglichkeiten zu gewähren, sich in den Prozess einzubinden.
Bei seinem Besuch des UNESCO-Hauptquartiers in Paris im Jahr 2014 hatte Präsident Xi Jinping erklärt: „Die Geschichte lehrt uns, dass eine Zivilisation erst dann prosperiert, wenn man den Austausch sucht und voneinander lernt. Solange man sich im Geist der Toleranz begegnet, bleibt der ,Zusammenprall der Zivilisationen‘ aus, und alle Völker bestehen harmonisch nebeneinander.“ Themen wie der Handelskrieg mit den USA, der auf das Konto von Ex-Präsident Trump geht, sowie die noch immer anhaltende Corona-Pandemie, regionale Konflikte, rückläufige Investitionen und die Unterbrechung der globalen Lieferketten sollten hierbei als vorrübergehende Hindernisse betrachtet werden. Wir sollten nicht vergessen, dass China im Laufe seiner langen Geschichte bei der Bewältigung von Herausforderungen stets zu einer dreifachen Betrachtungs- und Vorgehensweise tendiert hat, nämlich aus unmittelbarer, mittelfristiger und langfristiger Perspektive. Henry Kissinger, Chinafreund und angesehener Staatsmann, lobte an verschiedener Stelle Chinas strategisches Denken und das politische Vorgehen des Landes. Beides sei stets vergangenheits-, gegenwarts- und zukunftsbezogen, betonte er. Bekannt ist Kissinger unter anderem für seine Bemerkung über die Geschichte von Staaten. Diese sei gleichbedeutend mit der Rolle des Charakters für Individuen, so wird er zitiert.
Ganz konkret arbeitet die Seidenstraßeninitiative daran, ein Vakuum auf regionaler und globaler Ebene zu füllen, und zwar in Verbindung mit parallelen Initiativen wie der AIIB, die im Jahr 2015 aus der Taufe gehoben wurde. Zusammen haben beide Projekte die Konnektivität und den Austausch signifikant gefördert. Durch Initiativen und Netzwerke in ganz Asien wurden große Synergien generiert. Dazu gehören etwa der Masterplan für ASEAN-Konnektivität 2025, das strategische Rahmenprogramm 2030 für die regionale wirtschaftliche Zusammenarbeit in Zentralasien (CAREC) (dessen fünf operative Cluster vorrangig auf die Felder Infrastruktur und Konnektivität abzielen) sowie das Great Mekong Subregional Economic Cooperation Program und der Asien-Afrika-Wachstumskorridor, um nur einige zu nennen.
Eine Luftaufnahme zeigt einen Teil der neuen Autobahn, welche die Stadt Bar an Montenegros Adriaküste mit dem Nachbarland Serbien verbindet. Auch dieses Projekt ist Teil der Seidenstraßeninitiative und wird von der China Road and Bridge Corporation verwirklicht. (Foto vom 11. Mai 2021)
Verbindung, Interkonnektivität und Fortschritt
In den 1990er Jahren kamen einige westliche Analysten zu dem Schluss, dass Afrika so arm sei, dass die Weltwirtschaft selbst unberührt bliebe, wenn der Kontinent – metaphorisch gesprochen – auf den Grund des Ozeans sänke. Diese Haltung offenbart eklatante Realitätsfremde. Denn sie lässt die Kräfte außer Acht, die bereits auf dem Spiel stehen, nämlich die Fähigkeiten und Ressourcen des afrikanischen Kontinents, und nicht zuletzt seine eigenen diplomatischen Netze und seine Beziehungen zur Volksrepublik China.
Schließlich darf man nicht vergessen, wie widerstandsfähig Beijing ist. In den 1970er Jahren zum Beispiel, einer besonders schwierigen Zeit für die chinesische Wirtschaft, gelang es Beijing dennoch, eine fast 2000 Kilometer lange Eisenbahnlinie zu bauen, die den Hafen von Dar es Salaam an der Küste Tansanias am Indischen Ozean mit Sambia im Inneren des Kontinents verbindet. Nicht zu vergessen ist auch Chinas Beteiligung am Bau des sudanesischen Merowe-Staudamms, einer Pipeline und einer Eisenbahnlinie von Südsudan zum Indischen Ozean, seit dem Beginn der Seidenstraßeninitiative. Auch half man dabei, Kenias Eisenbahnlinie zum Viktoriasee wieder auf Vordermann zu bringen, die einst in der britischen Kolonialzeit angelegt, dann aber aufgegeben wurde. Erwähnenswert ist auch, dass die Weltbank zwar den Wiederaufbau in den Nachkriegszeiten finanzierte, in den 1960er Jahren jedoch den Schwerpunkt ihrer Hilfe von der Infrastruktur verlagerte und damit die grundlegenden Bewässerungs-, Transport- und Elektrifizierungssysteme des afrikanischen Kontinents vernachlässigte. Die Seidenstraßeninitiative hat diese Lücke nun in positiver Weise geschlossen, was China in dem berühmten Werk des Analysten Parag Khanna mit dem Titel „Connectography: Mapping the Future of Global Civilization“ den Beinamen „symbiotischer Partner“ eingebracht hat.
Über Asien und Afrika hinaus sind die Auswirkungen der Seidenstraßeninitiative übrigens auch in Lateinamerika spürbar. Es wird erwartet, dass das Projekt im laufenden Jahrzehnt hier in vielen Gegenden an Sichtbarkeit gewinnt, von den Anden bis zum Amazonas, durch die bereits in Betrieb befindlichen Infrastrukturen sowie durch neue Unterseekabel im Atlantik und Pazifik. Auch das Handelsvolumen mit China, das heute bereits 17-mal höher liegt als noch 2001, ist ebenfalls Ausdruck der engen bilateralen Beziehungen zwischen China und Lateinamerika.
Im Westen wurde die Seidenstraßeninitiative bisweilen als einseitig kritisiert, eine Reaktion, die das Fehlen kontinuierlicher, global ausgerichteter Ideen anderer Mächte oder Blöcke impliziert. Interessanterweise hat Europa nach dem Ende des Kalten Kriegs jedoch ähnliche Vernetzungsinitiativen auf den Weg gebracht. Besonders deutlich wurde dies an seiner Ostflanke sowie in Richtung Kaukasus und Zentralasien, wo man damals verschiedene Programme anstieß, deren Schwerpunkt auf Diplomatie, Infrastruktur und Energie lag und von denen einige als Versuche erschienen, die alte Seidenstraße nachzuahmen. Die Erweiterung der EU in Richtung Osteuropa – vom Ende der neunziger Jahre bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts – infolge der Wirtschaftskrise von 2008 sowie eines Mangels an interner Einigkeit, der 2016 im Brexit gipfelte, verlangsamte die Dynamik der Pläne zur Vernetzung mit Zentralasien jedoch dramatisch.
Allerdings wird die Seidenstraßeninitiative derzeit von der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung unterstützt, in der China seit 2016 ein aktives Mitglied ist. Einige europäische Länder haben zudem bedeutende Hafen-, Eisenbahn- und Autobahnprojekte im Rahmen der Belt-and-Road-Initiative entwickelt, während andere gemeinsame Absichtserklärungen mit Beijing unterzeichneten. 2014 verlieh das Vorzeigeprojekt des Programms, die Eisenbahnstrecke Yiwu-Madrid, den Volkswirtschaften entlang der Strecke noch einmal ordentlich Schub. Die Schienenverbindung durchquert auf ihrem Weg nach Spanien Kasachstan, Russland, Weißrussland, Polen, Deutschland und Frankreich. Vom Ausbruch der Ukraine-Krise Anfang 2022 blieb die Zugverbindung Yiwu-Madrid unbeeinträchtigt.
Andererseits hat die Volksrepublik die USA während der Regierungszeit von Obama eingeladen, sich der Belt-and-Road-Initiative anzuschließen. Amerika lehnte dies jedoch ab. Dies war kein kleines Versäumnis, wenn man bedenkt, dass Initiativen von erheblicher Bedeutung für die Weltordnung, die sich derzeit in einem Prozess der Neuausrichtung befindet, bisher von Washington ausgegangen waren. In der Folge setzte Donald Trump alles daran, die Initiativen seines Vorgängers zu boykottieren. Er hat damit einen kurzsichtigen Isolationismus betrieben. Sein Nachfolger Joe Biden hat inzwischen eigene Initiativen ergriffen. Aber als Mann, der seine Karriere auf dem Höhepunkt der Ära des Kalten Krieges geschmiedet hat, konnte sich Biden bisher nur durch geopolitische Initiativen hervortun, die oftmals eine militärische Komponente tragen. Nichts von dem, was er getan hat, ist vergleichbar mit Franklin D. Roosevelts großartigem New-Deal-Program der 1930er Jahre oder mit dem Marshall-Plan, der Europa nach dem Zweiten Weltkrieg wiederaufbaute. Aber warten wir erst einmal ab, wie sich Bidens kürzlich angekündigte globale Infrastrukturinitiative schlägt.
Fest steht: In diesem Jahrzehnt kommt wohl niemand an einer Politik der offenen Tür vorbei, vor allem angesichts des immer dringlicher werdenden Kampfes gegen den Klimawandel. Da die Seidenstraßeninitiative auch eine grüne Dimension hat, wäre ein bedeutender Schritt in dieser Hinsicht eine Initiative im Rahmen einer Klimaarbeitsgruppe zur Erleichterung der bilateralen wie auch der multilateralen Zusammenarbeit in den Entwicklungsländern. Es müssen Wege der Zusammenarbeit mit Beijing gefunden werden, um die grünen Dividenden zu vermehren. Die Suche nach Synergien mit Chinas Seidenstraßeninitiative könnte nicht nur das gemeinsame Gewinnen im asiatisch-pazifischen Raum fördern, sondern letztlich auch in Eurasien, Afrika und Lateinamerika Früchte tragen.
*Augusto Soto ist Direktor des Dialogue with China Project, einer unabhängigen Internetplattform.